Werk im Werden: Eines der ertragreichsten Leben in der deutschen Philosophie ist zu Ende gegangen. Zum Abschied von Dieter Henrich.
Von Jürgen Kaube
Philosophie ist vor allem dort produktiv, wo sie sich mit Forschung verbindet. Das galt für Karl Marx und seine politökonomischen Studien wie für Edmund Husserl, der ausdrücklich von „phänomenologischer Forschung“ sprach, oder für Sigmund Freud, der die Weise revolutionierte, in der wir die Begriffe „Ich“ oder „Bewusstsein“ verwenden. Die enge Verbindung von Philosophie und Linguistik, etwa in der Theorie der Sprechakte oder der Semiotik, ist ebenso ein Beispiel für diesen forschenden philosophischen Geist wie der Versuch von Jürgen Habermas, die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und der Soziologie in eine Moralphilosophie mit kapitalismuskritischer Absicht einzubringen.
Entgegen dem Anschein war auch Dieter Henrich ein forschender Philosoph. Früh fiel der 1927 in Marburg Geborene durch seine in- und auswendige Kenntnis der Schriften des Deutschen Idealismus auf. Ob es um die praktische Philosophie Immanuel Kants ging, über die er sich 1956 habilitierte, oder um den Zentralbegriff des „Selbstbewusstseins“, den er in seiner wirkungsreichsten Schrift, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, analysierte, ob er über Kapitel von Hegels Logik handelte oder über wenige Manuskriptseiten Hölderlins, stets verfügte Henrich über die philosophischen Argumente, die um 1800 vorgetragen wurden, wie ein Schachspieler, der alle Partien seiner Vorgänger kennt, die Stärken und Schwächen ihrer Stellungen wie die Konsequenzen ihrer Züge.
Eine solche intensive Kenntnis war auch nötig, denn als Henrich zu seinem Lebensthema „Subjektivität“ durchdrang, war damit kaum jemand hinter den Öfen der Heidegger-Schule und der sprachanalytischen Philosophie hervorzuholen. Henrichs Arbeit bestand darum nicht zuletzt im Nachweis, dass wichtige Einsichten der Vergangenheit überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen worden seien. Für Henrich war es vor allem die Einsicht, dass das Wissen von sich weder aus sozialen Situationen noch aus einem Blick in den Spiegel abgeleitet werden kann, weil es sich im Spiegel nicht identifizieren könnte, wüsste es nicht schon von sich. Henrich hatte alle Komplexionen dieses ganz handlich scheinenden Problems, woher das Ich sich kennt, ausgearbeitet.
So prägte er von seinen Lehrstühlen in Berlin (1960 bis 1965), Heidelberg (1965 bis 1981) und München (1981 bis 1994) aus eine ganze Generation von Philosophen, weil er Standards der Beschäftigung mit den klassischen Texten etablierte. Wiederholte Aufenthalte an amerikanischen Universitäten brachten ihn in Kontakt mit der dortigen analytischen Philosophie, der er das Pensum des Idealismus mit seiner Vorlesung „Between Kant and Hegel“ von 1973 an oft vergeblich nahelegte. In einer spöttischen Bemerkung wunderte sich Henrich später über die mühselige Arbeit der angloamerikanischen Kollegen, die sie am Ende bei den erkenntnistheoretischen Problemen von Descartes herauskommen lasse. Auch die Rede vom „postmetaphysischen“ Zeitalter wunderte ihn, wenn sie von Leuten vorgetragen wurde, die dann statt Metaphysik eine Anthropologie als Grundlage ihrer Argumente anboten.
Die Wunderjahre des Geistes zwischen der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 und Hegels Rechtsphilosophie von 1820 waren für Henrich auch da maßgeblich, wo er eigene systematische Überlegungen anstellte. Etwa zur Ästhetik in seinen Berliner Vorlesungen, die unter dem Titel „Versuch über Kunst und Leben“ anstrebte, den vorkünstlerischen Sinn für Symmetrie, Farbe oder Gefühl in eine Theorie der Kunstwerke einzubeziehen. Oder in seiner „Ethik zum nuklearen Frieden“, die, 1990 publiziert, ein wenig unter die Räder des Epochenumbruchs geriet. In der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“, der er seit der Gründung angehörte, trug er Überlegungen zur Kunst der Gegenwart ebenso „mit Rücksicht auf Hegel“ vor, wie er in einer glänzenden Kontroverse mit Hans Blumenberg die Subjektphilosophie zur Deutung des modernen Romans einsetzte. Niemand wusste klassische Texte so variantenreich als Ressource zu nutzen wie er.
Zum Forscher wurde Henrich, der als Jugendlicher vorhatte, Ur- und Frühgeschichte zu studieren, indem er den Voraussetzungen der idealistischen Gedankenblüte nachging. In Dutzenden von ideenarchäologischen Studien zeichnete er den intellektuellen Raum nach, in dem sich Fichte, Hölderlin und Hegel bewegten. Das geschah erstmals 1971 in „Hegel im Kontext“, einer Sammlung von Aufsätzen, die zeigten, wie und aufgrund welcher Lektüren die Leitbegriffe des Philosophen – Liebe, Vernunft, Geist – auseinander hervorgingen. Später spürte Henrich die nachgelassenen Manuskripte des Tübinger Kantianers Immanuel Carl Diez auf, bei dem Hegel und Hölderlin studiert hatten, und widmete ihm wie anderen Figuren im Hintergrund der Helden 2004 eine zweibändige Abhandlung, „Grundlegung aus dem Ich“. Zwei Jahre im Leben Friedrich Hölderlins, den erst Henrich als Philosophen entdeckte, wurden in der Studie „Der Grund im Bewusstsein“ minutiös untersucht. Sein Buch über das Gedicht „Andenken“ ist eine philologische Meisterleistung.
In „Werke im Werden“ hat Henrich, der bis ins hohe Alter publizierte und Seminare gab, 2011 diese ideengeschichtliche Arbeiten um eine Art Handwerkslehre des Denkens ergänzt. Wie entstehen, fragte er, philosophische Hauptwerke wie „Sein und Zeit“, Wittgensteins Untersuchungen oder Descartes’ „Meditationen“? Führt der Philosoph Notizhefte, oder bearbeitet er Probleme in längeren Stücken, entwickelt er „Sekundenphilosophien“, also kleine Sequenzen von Argumenten, oder arbeitet er sich an einem ausgewählten Gegner ab? Wie behandeln Autoren ihre eigenen Defizite? Henrich zieht hier eine Summe aus seinem jahrzehntelangen Nachdenken von Gedanken.
Wer Dieter Henrich begegnete, konnte auf eine Person treffen, der die Anstrengungen und Spannungen nicht anzumerken waren, denen sich dieses, paradox formuliert, ausgreifend konzentrierte Werk verdankte. Auch in seinen langen autobiographischen Interviews wahrte er die Diskretion über sich selbst. Sein Aufsatz über Not und Glück oder sein letztes Werk über den Satz des Evangelisten Johannes, in der Liebe sei keine Furcht, deuten an, welchen Gefährdungen das „Ich, das viel besagt“, begegnet.
Als der Philosoph Jacob Taubes 1986 gestorben war und niemand von „Poetik und Hermeneutik“ seinen Nachruf schreiben wollte, nahm sich Henrich dieser Aufgabe an und erinnerte an den flackernden Geist des Kollegen, dessen Augen „niemals auf einem Ding ruhten“. Henrichs Augen flackerten nicht, aber seine Beobachtungen ruhten ebenfalls nur selten auf Dingen. Denn das Ich, dessen Struktur und Dynamik sein Lebenswerk galt, ist kein Ding, sondern ein Rätsel. Wir verdanken Dieter Henrich keine Lösung, sondern die Umrisse der Arbeit, die für eine solche Rätsellösung nötig wären. Im Alter von 95 Jahren ist der Philosoph am vergangenen Wochenende in München gestorben.