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Péter Nádas über das Schreiben : An den geheimnisvollen Kreuzwegen der Entselbstung

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Das eigene Buch ist immer dabei: Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas im Jahr 1977 in seiner Budapester Wohnung Bild: Picture Alliance

Wo ist das rabbinische Erbe geblieben? Eine Dankesrede in Stockholm anlässlich der Zuerkennung des Bermann-Literaturpreises für die schwedische Ausgabe des autobiographischen Buches „Aufleuchtende Details“.

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          Inwieweit und worin ist die Person, die leibhaftig hier steht, mit jener Person identisch, die mein Buch geschrieben hat? Dieser Frage kann ich nicht aus dem Weg gehen. Was wäre, wenn jemand zum Beispiel meine Geburtsdokumente vertauscht hätte? Oder wenn meiner Mutter zufällig ein anderes Neugeborenes übergeben worden wäre? Derlei Dinge passieren, und wir haben auch in diesem Fall keinen Grund, eine solche Möglichkeit auszuschließen. Und dann müsste der, der ich bin, in Wahrheit ein anderes Leben unter einem anderen Namen leben.

          Ich kann auch die be­drückende Frage nicht beantworten, ob ich mit dem anderen Namen, mit der anderen Abstammung genauso zu dem geworden wäre, der dem System meiner Entschlüsse und dem Spiel des Zufalls folgend in meiner sterblichen Hülle hier steht. Man benutzt seine Eigenschaften höchstens, doch von wo sie wohin führen und auf welche Weise sie in den Augen anderer ihre un­verwechselbare Eigenart erhalten, kann man ja doch nicht sagen. Wer ist der Mensch? Du lieber Gott, wenn wir das wüssten. Über einander können wir am ehesten die Frage beantworten, wie wir sind. Das in eine andere Sprache übersetzte Buch tritt mitsamt seinem An­spruch auf sprachliche und stilistische Treue praktisch aus dem Persönlichen heraus. Was in meinen Augen ein Segen, ein besonderes Glück ist. Das übersetzte Buch tritt in die entselbsteten Räume zwischen den Personen, zwischen den Sprachen und Kulturen, wenngleich wir relativ wenig wissen über diese mit Menschenarbeit gefüllten Räume, in denen ich sicher nicht ich oder nicht nur ich bin.

          Bestenfalls wissen Verliebte oder Mönche etwas darüber, wenigstens solange sie beim Kuss oder beim Gebet bleiben.

          Über Überflüssiges redete er nicht

          Ich will jetzt erzählen, was passierte, als ich den letzten Punkt nach dem letzten Wort gesetzt hatte. Ich schickte das umfangreiche Manuskript meinem Bruder. Früher hätte ich ihn nie aufgefordert, meine Arbeiten zu lesen, nicht einmal andeutungsweise. Jetzt konnte ich ihn nicht verschonen. Ich befürchtete nämlich, er würde mich nicht nur auf sach­liche Irrtümer aufmerksam machen, sondern sich auf seine impulsive Art einmischen. Überflüssigerweise, denn auch er war aus demselben freisinnigen familiären Holz geschnitzt. Er hatte selbst dann nichts gegen meine Feststellungen einzuwenden, wenn er sie für seine Person oder auch für mich als peinlich empfand. Ich werde mich doch nicht einmischen in das, was ein anderer fühlt oder denkt.

          Allerdings irritierte ihn, dass mit den Proportionen etwas nicht stimmte, und da er mit seinen eigenen Themen ohnehin schon seit Monaten in Bibliotheken und Archiven tätig war, ging er der Sache gleich nach. Wenn es in dem Manuskript so viele Mezei gab, so viele Nussbaum, so viele Neumayer und Nádas, wo zum Kuckuck blieben dann die Tauber.

          Im familiären Raum fehlten die Vorfahren unseres Großvaters mütterlicherseits. Das hätte ich von selbst nicht be­merkt, und dafür gab es einen guten Grund. Ich hatte die Schweigsamkeit unseres Großvaters sehr eindrücklich vor Augen. In seiner Gegenwart bekam die Wortlosigkeit sozusagen materielles Ge­wicht. Und wenn ich fragte, und ich erkundigte mich bei ihm mehrmals nach seinen Vorfahren, wich er mir aus. Er äußerte sich höchstens allgemein über Geographisches. Es ist jedoch so, dass er andere niemals schilderte und niemals über sie urteilte. Er schüttelte höchstens den Kopf und dachte nach. Er dachte so viel nach, dass es sich gar nicht mehr auszahlte zu antworten. Er war deshalb so schweigsam, das war allgemein mein Eindruck von ihm, weil er über Überflüssiges nicht redete, und sicherlich gibt es auf der Welt mehr Überflüssiges als Wichtiges. Ich bin, das soll genügen.

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