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Literaturnobelpreis : Swetlana Alexijewitschs Sprachkunstwerk aus russischen Ruinen

Lässt jeder der Stimmen, die sie versammelt, individuell erklingen: Swetlana Alexijewitsch im Oktober 2013 in Frankfurt Bild: Picture-Alliance

Ein starkes politisches Signal, zu dem sich die Schwedische Akademie nicht eindeutig bekennt: Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch.

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          Die erste Frage muss lauten: Ist das, wofür Swetlana Alexijewitsch an diesem Donnerstag den Nobelpreis für Literatur zuerkannt bekommen hat, denn überhaupt Literatur? Ein klares Ja. Die Frage wurde schon vor zwei Jahren, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die weißrussische Autorin debattiert. Nun war das ein dezidiert politischer Preis, aber auch damals konnte man den Kommentaren schon die Achtung vor der immensen literarischen Leistung ablesen, die in den Gesprächsbüchern von Swetlana Alexijewitsch steckt.

          Andreas Platthaus
          Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.

          Das sind sie also zunächst einmal: Gesprächsbücher. Alexijewitsch, geboren 1948 im ukrainischen Stanislaw, hat den Untergang des sowjetischen Herrschaftssystems in den neunziger Jahren erlebt, aber schon zuvor die Krisenzeichen Afghanistankrieg und Tschernobyl zum Gegenstand ihrer Unterhaltungen mit Sowjetbürgern gemacht, die von diesen Ereignissen persönlich betroffen waren: durch tote Angehörige, durch den Verlust ihrer Heimat oder ihrer Gesundheit. Nach dem Kollaps der Sowjetunion weitete Alexijewitsch ihre Erkundungen aus. Die Summa ihres schriftstellerischen Werks, das 2013 erschienene monumentale Buch „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, versammelte ein ganzes Stimmkonzert, das vom Scheitern einer großen gesellschaftlichen Illusion erzählt – ein fürwahr tragischer Chor, in dem aber jede Stimme für sich individuell erklingt.

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          Die literarische Leistung von Swetlana Alexijewitsch liegt in der Komposition dieses Konzerts. Stets bleiben die von ihr befragten Zeitzeugen erkennbar in Diktion und auch deren persönlicher Sicht auf die Dinge. Alexijewitsch bügelt die von ihr erfragten Geschichten nicht über einen Kamm. Ihre eigene Meinung wird aber überdeutlich durch das dokumentierte Elend einer ehedem mit größten Hoffnungen ausgestatteten Gesellschaft. Dieses Fazit des russischen Weltmachtanspruchs hat die Autorin bei allen postsozialistischen Machthabern im Raum der früheren Sowjetunion verhasst gemacht, denn sie sieht auch nach 1991 keine wesentliche Besserung.

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          Eine Antwort mit den Mitteln der Literatur

          Sie schreibt auf Russisch, nicht auf Weißrussisch, was ihr in ihrem Heimatland Kritik eingebracht hat, obwohl der dortige Diktator Lukaschenka selbst erst seit Neuestem auf die bindende Kraft der eigenen Nationalsprache setzt, während er früher das Russische förderte, um die Kontinuität zur Ostbindung seines Landes zu sichern. Russlands Führungsriege wiederum sieht in Swetlana Alexijewitsch eine Ausländerin, die zwar in der eigenen Sprache publiziert, aber wie schon Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky, die 1970 und 1987 als letzte russisch schreibende Schriftsteller den Nobelpreis gewonnen haben, als Symbolfigur des intellektuellen Widerstands gegen den Staat gilt. Insofern ist die Zuerkennung des Nobelpreises in diesem für Russland so heiklen Jahr ein extrem starkes politisches Signal, zu dem sich die Schwedische Akademie allerdings nicht eindeutig bekennen möchte, wie die sehr knappe Begründung zeigt: Alexijewitschs vielstimmiges Werk habe dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal gesetzt. Keine Rede davon, wo gelitten wird, wer da Mut aufbringt.

          Es gibt berühmte Vorläufer für Alexijewitschs Verfahren der Überführung individueller Zeugnisse in eine literarische Gesamtkonzeption. Etwa die Brüder Grimm, die aus den von ihnen gesammelten Märchenerzählungen eines der für die deutsche und die Weltliteratur wichtigsten Bücher gemacht habe. Oder Walter Kempowskis „Echolot“-Projekt, für das er um persönliche Aufzeichnungen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs bat und sie dann mit weiteren zeitgenössischen Materialien zu einem Werk höchster Anschaulichkeit montierte, das sich liest wie ein Roman. Und es gibt mit Liao Yiwu auch einen Kollegen, der in seinen Gesprächsbüchern zur gleichen Zeit mit dem gleichen Rezept das gleiche hohe literarische Niveau erreicht, aber für ein anderes totalitäres Land, China.

          Allein schon die Tatsache, dass nun noch mehr Menschen diese politisch aufklärenden und gesellschaftlich aufklärerischen Bücher lesen werden – die deutschen Ausgaben sind bei Hanser Berlin erschienen –, rechtfertigte diesen Nobelpreis. Doch Swetlana Alexijewitsch gibt als Schriftstellerin mit den Mitteln der Literatur Antwort auf die informationelle Unübersichtlichkeit. Hier wird aus den Bruchstücken einer zerfallenden Welt ein Sprachkunstwerk zusammengesetzt. 

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