Rolf Dieter Brinkmann : Deine Briefe waren alle wild
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Jede Karte ein Ereignis: Aus der Sammlung von Brinkmanns Freund Henning Freyend. Bild: Patrick Slesiona
Sagen, was ist: Unbekannte Texte, Gedichte und Collagen aus dem Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann sind nun erstmals zugänglich.
Mit der denkwürdigen Ermahnung „Lieber Henning, keine Angst vor Farben!“ beginnt der Brief des Dichters Rolf Dieter Brinkmann vom 10. Oktober 1973 aus Köln an seinen Freund, den Maler Henning John von Freyend, der sich gerade in London aufhielt. Der Einstieg mit einer konkreten Idee führt den Schreiber sofort zu einer kleinen Abhandlung über den Kölner Himmel, die enge Wohnung in der Engelbertstraße und die Lichter der Stadt. Wieder einmal geht ihm die „stickige, moddrige Himmelsatmosphäre“ auf den Geist, jenes farblose „Gesamtpanorama“, das er als die hinderliche Grundbedingung seines Lebens ausgemacht hatte und tatsächlich überall, wo er sich je befand, auch entdeckte.
Der Maler hatte schon 1970 anlässlich eines Gesprächs mit Brinkmann über ein gerade entstandenes Bild notiert: „Von den wirklichen Problemen der Malerei versteht er nichts.“ Sie kannten sich seit 1969, als Brinkmann zu der neu gegründeten Künstlergruppe stieß, eingeladen von Freyend in die kleine Galerie in der Kölner Steinfelder Gasse 24, wo Freyend mit Thomas Hornemann und Berndt Höppner Siebdrucke vertrieb. Die Gruppe trat als Kollektiv auf und produzierte ohne persönliche Signaturen nur unter dem Label EXIT. Sie verwendeten Alltagsgegenstände, zeichneten Bonbons, Eisbecher und Hundekuchen, Freyend malte ein Acrylbild mit dem bunten Hemd, das Brinkmann aus London mitbrachte. Als Plakat warb man damit 1969 für die Wohnungseröffnung der Malerkommune am Hohenzollernring 36, bei der Brinkmann Gedichte aus dem neuen Band „Gras“ vorlas. Die Bildermacher, wie sie sich nannten, produzierten „Wegwerfkunst“ in Mappen, schmalen Zeitungen oder gestalteten Buchumschläge zu „Gras“ und zur Anthologie „Silverscreen“.
Das allermeiste bis heute unbekannt
Die Zusammenarbeit hielt aber nur kurz, die Gruppe löste sich 1971 auf, Brinkmann soll mit seinem Drängen auf künstlerische Entfaltung jedes Einzelnen maßgeblichen Anteil daran gehabt haben. Doch der freundschaftliche Kontakt zu Freyend und dessen Frau Linda blieb bis zu Brinkmanns Tod in London im April 1975 erhalten. Drei Tage vor seinem Unfall schrieb er den Freyends eine Postkarte aus Cambridge. Sie ist Teil des nun von der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann in Vechta erworbenen Materials aus dem Besitz der Freyends, die heute in der Nähe von Köln leben.
Erhalten sind zehn schwarze Kladden, Arbeitsjournale im Sinne Brechts oder Skizzenbücher, wie der Maler sie nennt, chronologisch von 1971 bis 1975 geführt, in die er die Texte Brinkmanns aus Köln, Rom, Austin und London integrierte: Briefe, Postkarten, darunter zehn Gedichte. Er hat sie eingeklebt, manche Texte auf den Postkarten eigenhändig noch einmal übertragen und über achtzig Karten in separate Papiertaschen eingesteckt. Viele von ihnen enthalten Sätze, die später im letzten Gedichtband „Westwärts 1&2“ (1975) stehen.
Besonders reizvoll sind die von Brinkmann selbst gefertigten Collagen, die er aus Austin einzeln oder eingelegt in Briefe nach Köln schickte. Das Konvolut umfasst alles in allem über dreihundert Seiten Text, teils sehr eng mit der Maschine getippt. Ein über mehrere Tage geschriebener Brief ist alleine fünfzig Seiten lang.
Das allermeiste davon ist bis heute unbekannt geblieben. Aus „Rom, Blicke“ (1979), in dem zwei Briefe und wenige Postkarten gedruckt sind, konnte man erahnen, dass hier mehr existieren musste. Mit dem Ankauf, unterstützt von der Stiftung Niedersachsen, der VR – Stiftung Volksbank Vechta und der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg sowie weiteren Vechtaer Sponsoren, kommt der jahrzehntelang nicht sichtbare Austausch der beiden Künstler jetzt ans Licht.