Martin Walser : Das Monument
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Martin Walser Bild: Mads Nissen/laif
Wer heute Martin Walser liest, hat ihn meist vor Augen. Das versperrt den Blick auf den Text. Aber als ich noch fast nichts von ihm wusste, mit siebzehn, da war er mein Lieblingsschriftsteller.
Als im Januar der neue Roman von Martin Walser mit dem seltsam verschnörkelten Titel „Statt etwas oder Der letzte Rank“ erschien, ein Titel, den sich wahrscheinlich überhaupt nur Martin Walser leisten kann, weil Walser-Bücher gekauft werden, egal was draufsteht, nannte ein Kritiker diesen Roman „Privat-Literatur“. Martin Walser, schrieb er in der „Süddeutschen Zeitung“, habe irgendwann angefangen, auch dort, wo er von etwas ganz anderem zu sprechen schien, nur noch von sich selbst zu sprechen. Immer mehr seien seine Romane zu einem Selbstgespräch geworden, bei dem die Öffentlichkeit zuhören konnte, wenn sie denn wollte.
Jetzt hatte Walser eine neue Stufe erreicht. Er befasste sich auch nicht mehr vorgeblich mit den Schicksalen von Dritten. Er sagte in „Statt etwas oder Der letzte Rank“ einfach nur noch „ich“. „Ich bin, also bin ich“, sei das Handlungsziel dieses Entwicklungsromans, und es werde erreicht, sagte Martin Walser mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein in einem Interview über sein eigenes Buch.
Er behauptete auch, dass es keine Autobiographie sei, womit er sicher recht hat. Das Buch liest sich eher wie eine Rückschau mit Sinnstiftung, wie eine „Meditation über ein langes Leben“, wie es auch genannt wurde. Doch ändert das nichts an der Tatsache, dass man die ganze Zeit an Martin Walser denkt, wenn das „Ich“ hier „ich“ sagt. Jedenfalls ich dachte die ganze Zeit an Martin Walser und dachte auch, dass dies das eigentliche Problem mit Martin-Walser-Büchern ist, dass einem immer dieser Walser vor Augen steht, mit Hut oder ohne, mit diesen Augenbrauen, die seine Augen zu verdecken begonnen haben: ein Schriftsteller-Monument, das den Blick auf den Text versperrt.
Für mich war das nicht immer so. Und jetzt, wo er neunzig Jahre alt wird und schon wieder ein Buch von ihm erscheint, diesmal eine Sammlung zeitgeschichtlicher Texte mit dem monumentalen und zugleich angeberischen Titel „Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass“, denke ich daran, wie Martin Walser für eine Weile mal mein Lieblingsschriftsteller war. Da war ich siebzehn und wusste über ihn nicht mehr, als im Klappentext stand. Ich las „Seelenarbeit“, das mein Deutschlehrer mit uns im Unterricht durchnahm, eine ziemlich eigenwillige und anspruchsvolle Aktion. Denn „Seelenarbeit“ war die Geschichte eines Chauffeurs, Xaver Zürn, der den Fabrikanten Dr. Gleitze durch die Gegend fuhr, seinen Chef. Es war ein 300 Seiten langes Buch, in dem es vor allem um die Gedanken dieses Chauffeurs ging, der während seiner stundenlangen Fahrten so gerne mal ein privates Gespräch mit seinem Chef geführt hätte. Eine „Herr-Knecht-Geschichte“, wie wir lernten, ein Roman über die Frage, wie und ob es möglich sei, die eigene Abhängigkeit zu ertragen.
Vor allem erinnere ich mich aber an die dauernden Verdauungsprobleme des Chauffeurs. Überhaupt kommt es mir so vor, als sei dies das eigentliche Thema von „Seelenarbeit“ gewesen: die ständigen Bauchschmerzen des Geknechteten hinterm Steuer, der vor einer langen Autofahrt irgendwann ein Abführmittel nahm, das dann aber nicht rechtzeitig wirkte, also erst während der Fahrt, bei der der Chef dann aber keine Toilettenpause einlegte, weil er in seiner übermenschlichen Chefigkeit scheinbar nie aufs Klo musste. Kann sein, dass es auch noch um andere Sachen ging, ich weiß nicht mehr und kann es nicht überprüfen, weil ich „Seelenarbeit“ in meinem Bücherregal nicht mehr finden kann, obwohl ich meine Bücher immer aufbewahrt habe. Ausgerechnet „Seelenarbeit“ ist weg.
Martin Walser wurde nicht wegen der Verdauungsgeschichte mein Lieblingsschriftsteller. Er wurde mein Lieblingsschriftsteller, weil er der Lieblingsschriftsteller meines Deutschlehrers war und ich meinen Deutschlehrer sehr mochte. Wer Martin Walser war, wie er aussah, wo er herkam und was er dachte, war mir deshalb auch völlig egal. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, etwas über den Autor in Erfahrung zu bringen, um nachzuprüfen, ob im Buch etwas autobiographisch sein konnte. Was ich, voller Empathie, nachvollziehen wollte, war allein, wieso ausgerechnet die Walser-Romane meinen Deutschlehrer so umtrieben und wieso er sich, wie ich annahm, darin wiedererkennen wollte.