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KZ-Erinnerungen : Erzähl ihnen nichts, sie verstehen es nicht

Marceline Loridan-Ivens blickt in den Spiegel ihres Salons. Bild: Patrick Zachmann

Im KZ Birkenau hörte sie auf zu wachsen, als ihr Vater in Auschwitz ermordet wurde. Mit 87 Jahren schrieb Marceline Loridan-Ivens darüber ein Buch. Frankreich war erschüttert, Deutschland wird es auch sein.

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          Fünf Ziffern, eine Zahl: „78750“. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die eine solche Registrierung auf dem Arm tragen. Und es ist auch schon spät in unserem Gespräch, als Marceline Loridan-Ivens vorsichtig ihren Ärmel hochzieht. Fünf Ziffern, in denen ein Schicksal gespeichert ist. Sie selbst nennt die Nummer ihre „furchtbare Gefährtin“. Dabei braucht es den Hinweis auf ihrem linken Unterarm nicht. Denn die Erinnerung an das Konzentrationslager ist mit Marceline Loridan-Ivens verwachsen - buchstäblich. Seit sie ihren Vater in Auschwitz das letzte Mal gesehen hat, ist sie keinen Zentimeter mehr gewachsen.

          Sandra Kegel
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton.

          „Je suis petite, n’est-ce-pas?“, sagt die siebenundachtzigjährige Filmregisseurin, als sie mich in ihrer Wohnung in Saint-Germain-des-Prés, direkt um die Ecke vom berühmten Café Flore, empfängt. Seit sechzig Jahren wohnt sie hier, dreißig Jahre zusammen mit ihrem 1989 verstorbenen, letzten Ehemann, der Dokumentarfilmlegende Joris Ivens. Und tatsächlich ist sie unfassbar klein, fast zerbrechlich; Schuhgröße 33. Ihre Zehen sind erfroren und für immer taub. Die einstigen Entzündungen auf dem Arm heben sich auf der Haut ab. Marceline Loridan-Ivens ist elegant gekleidet, eine große Bernsteinkette hängt um ihren Hals, ihre roten Locken wippen im Takt, als sie zum Kühlschrank geht und eine Flasche Saft holt. Sie ist nie aus Auschwitz zurückgekehrt. Sie ist das Mädchen geblieben, das mit fünfzehn Jahren ihren Vater Froim Rozenberg verloren hat.

          Er wurde nur halb so alt

          Bis heute verbindet sie mit ihm ein Bindestrich: Auschwitz-Birkenau. Der Vater ist in Auschwitz gestorben, sie hat im benachbarten Birkenau überlebt. Der Bindestrich ist das Trauma ihres Lebens und das ihrer ursprünglich aus Polen stammenden jüdischen Familie. Denn das, was sie mit dem Vater verband, hat sie zugleich von den anderen, ihrer Mutter und den vier Geschwistern, die in Frankreich überlebt hatten, getrennt.

          Kurz vor seinem Tod war es Froim Rozenberg noch gelungen, Marceline eine Botschaft zukommen zu lassen. Vier, fünf Sätze standen auf dem zerrissenen Papier in der ihr vertrauten, nach rechts geneigten Schrift. An den Inhalt kann sie sich nicht erinnern, obwohl sie es seit ihrer Befreiung ihr ganzes Leben versucht hat. Jetzt, siebzig Jahre später, hat sie ihrem Vater geantwortet. Die Siebenundachtzigjährige hat ihm, der nur halb so alt wie sie wurde, einen Brief geschrieben: „Et tu n’es pas revenu.“

          Die Rückkehr brachte keinen Frieden

          Als das Buch Anfang des Jahres in Frankreich erschien, waren die Leser erschüttert, alle Zeitungen berichteten. Diese Woche erscheint „Und du bist nicht zurückgekommen“ im Insel Verlag in der deutschen Übersetzung von Eva Moldenhauer. Der schmale Band, hundert Seiten lang, ist eine Liebeserklärung an den verlorenen Vater, die niemanden ungerührt lässt. Vor allem aber ist „Und du bist nicht zurückgekommen“ die Selbstauskunft einer unerbittlichen Kämpferin, die nicht nur in kaum zu ertragender Genauigkeit vom Überleben zwischen Stacheldraht, Bahngleisen und Krematorium erzählt, sondern auch von dem, was danach kam: das Leben als Überlebende.

          Der Bogen, den Marceline Loridan-Ivens dabei schlägt, reicht von der frühen Nachkriegszeit über die Pariser Achtundsechziger bis in die Post-Charlie-Gegenwart Frankreichs. Indem die Tochter ihrem Vater von jenen Jahrzehnten aus ihrem Leben erzählt, die er nicht mehr begleiten konnte, zeichnet sie zugleich ein bedenkenswertes Porträt der französischen Gesellschaft damals wie heute. Dass die Rückkehr aus Auschwitz nicht etwa Frieden brachte, ist der düstere Kern dieses Berichts.

          Befremdliches Schweigen

          Im Salon der kleinen Dachwohnung von Marceline Loridan-Ivens scheint die Zeit auf den ersten Blick stehengeblieben zu sein. Überall finden sich Erinnerungsstücke, unter den Bildern an der Wand hängt auch ein Porträt des Vaters. Aber Marceline Loridan-Ivens ist nach wie vor eine hochempfindliche Beobachterin ihrer Gegenwart, und unter ihren Bücherbergen finden sich auch die Neuerscheinungen dieser Rentrée. Gerade liest sie Boualem Sansals vieldiskutierten dystopischen Frankreich-Roman „2048“.

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