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Schriftsteller in der Schule : Wer hier besteht, wird nie mehr Bühnenangst haben

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Weiß, dass jeder Auftritt in einer von Missmut stickigen Aula zu einer Übung in Demut, wenn nicht gar zu einer Demütigung werden kann: Jan Wagner Bild: obs

Wenn Schriftsteller in Schulen aus ihren Büchern vorlesen, können sie Erstaunliches erleben. Hier berichtet einer davon, der es oft getan und daraus einiges an Optimismus gezogen hat. Ein Gastbeitrag.

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          Um es freiheraus zu sagen: Es gibt nichts Aufregenderes als eine Schullesung. Nicht auf einen kulturfondsgepolsterten Schonraum für empfindliche Künstler wird man hier treffen, sondern auf das echte, das raue Leben, schonungslos und durchaus aufschlußreich – vor einem Publikum, dessen Reaktionen ehrlicher nicht sein könnten, weiß es doch noch nicht, ob es überhaupt eines sein möchte. Kein willig und wohlwollend die Eintrittsbillets lösendes Bildungsbürgertum ist es, das in Erwartung von Häppchen und Weißburgunder artig applaudiert, hernach ein signiertes Buch erwirbt, um es daheim zwischen Goethe und Herder verschwinden zu lassen. Jedes Gähnen kommt aus tiefstem Herzen, das anschwellende Murmeln und Murren in den Weiten von Turnhalle oder Mensa läßt keinerlei Zweifel zu, und wirklich: Wer diese Zuhörerschaft nicht auf der Stelle für sich gewinnt, der hat sie für immer und ewig verloren.

          Jeder Auftritt in einer von Mißmut stickigen Aula wird so mindestens zu einer Übung in Demut, wenn nicht gar zu einer Demütigung – und ist zugleich eine schmerzhafte Erinnerung daran, daß die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen vielleicht noch von Luft und Liebe, aber gewiß nicht von Lyrik zu leben be­reit ist. Wer noch nie derart mit Blicken geteert und gefedert worden ist, kennt den aschenen Geschmack der Niederlage nicht. Nein, die drei Halbstarken in Reihe eins werden sich nicht dazu herablassen, deine ausgeklügelten Metaphern zu loben; sie lümmeln sich weiter in ihren Bluejeans und träumen von Popcorn und Petting. Jede einzelne kaugummikauende Göre ein verpickelter Scharfrichter, jeder ungekämmte und mit seinem Telefon ver­wachsene Dreikäsehoch mit Milchbart ein den Daumen senkender Augustus. Wirklich: Wer hier besteht, wem es hier mit ungebrochenem Selbstbewußtsein und ohne Verlust all seiner Würde sich zu verabschieden gelingt, der wird Zeit seines Lebens keine Bühnenangst mehr kennen.

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