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Zum Tod von Gerhard Dallmann : Frag dich nicht, warum du lebst, sondern wofür

Gerhard Dallmann (1926 bis 2022) im Greifswalder Hafen. Bild: Sybille Marx/OZ

Gerhard Dallmann war einer der letzten lebenden Deserteure des Zweiten Weltkriegs. Flucht und Kriegsgefangenschaft haben ihn geformt, seine Arbeit als Pfarrer und Schriftsteller geprägt. Jetzt ist er mit 95 Jahren gestorben.

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          Eine Szene wie aus einem Film von Ingmar Bergman oder einem Drama von Albert Camus: Es ist Nacht. Zwei Männer wandern über das Eis der Dänischen Wieck, einer Bucht des Greifswalder Boddens. Mit Laternen suchen sie nach einem Mädchen, das sich beim Spielen verlaufen hat. Das Eis platzt bereits. Der eine Mann ist Lehrer und Atheist, der andere Pfarrer. Beide fragen sich: Warum tun wir das? Würden wir unser Leben auch für ein behindertes Kind gleichermaßen riskieren? Worin bestünde die Schuld, die wir dann auf uns lüden? Ist Schuld ohne Gott denkbar? Woran formt sich ein Gewissen? Wem gegenüber sind wir verantwortlich? Das Gespräch endet im Schweigen. Als das Eis immer bedrohlicher zerkracht, kehren sie um: „Die in dieser Nacht erfahrene Ohnmacht verbot ihnen den Mund.“

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Die Geschichte beruht auf eigenen Er­lebnissen des Jahres 1969 und ist nur eine von sechs in dem autobiographischen Band „Logbuch und Agende“ des Pfarrers und Schriftstellers Gerhard Dallmann. Eine andere, nicht weniger aufwühlend, beschreibt seine Desertion in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs: Am 25. April 1945 nahm sich der achtzehnjährige Marinefunker Gerhard Dallmann im besetzten Dänemark ein Ruderboot und setzte sich über den Großen Belt auf die Insel Omø ab. Die Inselbewohner versteckten ihn vor den Besatzern und lieferten ihn erst nach Kriegsende an die West-Alliierten wieder aus.

          Dallmann kam, auch das beschreibt er in seinem 1975 erschienenen Buch, in ein belgisches Zwangsarbeitslager. Noch En­de September 2021 erzählte er, fünfundneunzigjährig: „Es gibt bestimmte Perioden und Figuren in meinem Leben, die mich besonders gefordert und dadurch geformt haben. Die Arbeit als Kriegsgefangener im belgischen Kohlebergwerk gehört dazu. Da war man mit Menschen zusammen, die genauso dreckig waren wie du selbst. Wir haben uns gegenseitig abgeseift. Wichtig war nicht, wer du bist, sondern wie du bist. Und so ist auch der dänische Theologe Nikolai Grundtvig immer im Schatten meines Lebens mitgewandert: Du sollst nicht fragen, warum du lebst, sondern wozu du lebst. Was ist deine Aufgabe, die du zu erfüllen hast? Mir ist etwas aufgegeben, nicht von mir selbst. Ich höre dann die Stimme Gottes in mir.“

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          Dallmanns Weg zur Theologie wie zur Literatur war alles andere als vorgezeichnet. Am 18. Juni 1926 war er als Sohn eines Kaufmanns und einer Pianistin in Stettin zur Welt gekommen. Das Optiker-Geschäft seines Großvaters sollte er einmal übernehmen. Und er segelte leidenschaftlich gern, übrigens bis ins hohe Alter: Noch zu seinem achtzigsten Ge­burtstag hatte er die gesamte Ostsee bis zu deren nördlichstem Hafen Haparanda in Schweden durchquert.

          Doch der Krieg brachte alle Pläne durcheinander. Die Dallmanns hassten die Nazis. Als der Reichsarbeitsdienst ihnen 1942 eine junge Polin namens Sa­bina Kopicka zuteilte, behandelten sie sie wie ein Familienmitglied. Der fünfzehnjährige Gerhard verliebte sich in sie. Sie vertraute der Familie schließlich an, dass sie in Wahrheit anders heiße und ihr Ausweis gefälscht sei. Sie war Jüdin, konnte sich in den letzten Kriegstagen retten und später nach Kanada emigrieren. Dallmann selbst verarbeitete die Geschichte erst spät, 2010, in einem Erzählungsband, der bei der Husum-Verlagsgesellschaft erschien. Als Dallmann 1948 aus der belgischen Kriegsgefangenschaft nach Pommern, zu seinen nach Wolgast geflüchteten Eltern, zurückkehrte, „da hatte ich nichts, und ich war nichts. Und das war gut“, sagte er einmal.

          Er wandte sich der Jugendarbeit der Evangelischen Kirche zu, wurde schließlich Pfarrer, wenn auch widerstrebend, denn die Seelsorge liebte er stets mehr als die Theologie, an der er bis zuletzt zweifelte. Mit einem Gott der radikalen Transzendenz mochte er sich nicht abfinden, wie sein Gedichtzyklus „Nur im Unendlichen darf ich dich finden?“ verrät. Er suchte Gottes Zuwendung, fordernd fast, „hier und jetzt“.

          Von 1965 bis 1991 war Dallmann Pfarrer im Fischerdorf Wieck, das zu Greifswald gehört. In den Siebzigerjahren begann er zu schreiben. Der große Roman „Das Kahnweib“ schildert das Leben von Berta Giese, die sich, nach dem Verlust ihres Mannes, bis 1944 als selbständige Frachtschifferin auf dem Greifswalder Bodden behauptete. Dallmann hatte diese Frau 1975 beerdigt. Auch das erste evangelische Kinderbuch „Die Sommerkinder von Ralswiek“ konnte Dallmann 1980 in der DDR durchsetzen. Später folgte der noch umfangreichere Roman „Dornenzeit“, der nicht das mondäne Hiddensee von Thomas Mann, Asta Nielsen und Gerhart Hauptmann schilderte, das Touristen noch heute auf der Insel suchen, sondern das harte Leben von leibeigenen Bauern und Schiffern zwischen 1777 und 1807.

          In seinen Romanen wie in seinen biographischen Schriften zum Maler Philipp Otto Runge, zum Komponisten Carl Loewe und zur Dichterin Alwine Wuthenow geht es immer um die Landschaft, die Geschichte und die Menschen in Pommern, schon zu einer Zeit, da – wie in der DDR – die Bezeichnung „Pommern“ völlig verboten war. Er selbst hatte sein Segelboot „Pomeranus“ genannt und liebte den Witz, zu bitten: „Trennen Sie das mal korrekt.“ Am 7. Januar ist dieses lange, reiche Leben zu Ende gegangen. Im Greifswalder Dom Sankt Nikolai wird sich die Stadt am 28. Januar von einem ihrer ungewöhnlichsten Bürger verabschieden.

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