Lateinamerikanische Autorinnen : Der Horror, der Alltag und sie
- -Aktualisiert am
Die alltägliche Armut und Gewalt in Lateinamerika prägt den Horror von Autorinnen wie Mariana Enríquez: Armenviertel in Rosario, Argentinien. Bild: AP
Mariana Enríquez, Samanta Schweblin, Mónica Ojeda: Gleich mehrere lateinamerikanische Autorinnen beleben zurzeit ein uraltes Genre neu – aber mit dem Grauen und den Gespenstern der Wirklichkeit, in der sie leben.
Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen.“ Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.
Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: „lateinamerikanischer Gothic“, „anomaler Realismus“ , „feministischer Horror“. Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen.
Die Argentinierin Mariana Enríquez ist die international prominenteste Vertreterin dieser Bewegung. Bekannt wurde sie durch die Erzählbände „Los peligros de fumar en la cama“ („Die Gefahren, im Bett zu rauchen“, 2009), der auf der Shortlist des International Booker Prize stand, und „Was wir im Feuer verloren“, ein Bestseller, der 2017 auch auf Deutsch bei Ullstein erschienen ist.
Diese Erzählungen sind minutiös konstruierte Maschinerien, die durch etablierte Horrormotive – Sekten, Spukhäuser, gespenstische Gestalten – die Fans des Genres begeistert haben. Unter der erzählerischen Oberfläche aber handeln die Geschichten der Autorin von sehr realen Miseren: Depression, Armut, ökologischen Katastrophen oder Gewalt.
Ihr bislang wichtigstes Werk ist vor wenigen Wochen auch auf Deutsch erschienen: „Unser Teil der Nacht“. Der Roman erzählt von der komplizierten Beziehung eines todkranken, von Visionen geplagten Mannes zu seinem kleinen Sohn. Beide werden gezwungen, als Medien für eine Geheimgesellschaft zu dienen, die auf der Suche nach ewigem Leben Menschen quält und barbarische Rituale veranstaltet.
Und weil sich Mariana Enríquez in ihrem achthundertseitigen Buch furchtlos mit Gewalt auseinandersetzt, verschiedene Zeitebenen verknüpft und mit literarischen Formen spielt, wurde der Roman mit Roberto Bolaños „2666“ verglichen, inzwischen ein Klassiker der neueren lateinamerikanischen Literatur.
„Unser Teil der Nacht“ hat den berühmten Herralde-Preis in Spanien erhalten und ist auch als Horrorroman äußerst spannend. Seine Wucht und Brisanz aber haben vor allem mit dem geschichtlichen Hintergrund zu tun: mit den letzten Jahren der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien herrschte, und der sozialen Ungewissheit, die mit der Rückkehr der Demokratie einherging.
Die permanente Angst der Protagonisten vor Verfolgung und Gewalt wird hier zum Symbol der Angst von Millionen. Die Erbarmungslosigkeit der Sekte wird zur Metapher der Verbrechen der Diktatur, der Folterung und Ermordung von Tausenden von Menschen, der Entführung von Kindern und des Verschwindens von mehr als 30.000 Personen.
Die Art, in der sich in Enríquez’ Büchern geisterhafte Elemente mit der Anspielung auf authentische Übel vermischen, ist repräsentativ für die Arbeit einer Reihe anderer Autorinnen, die ebenfalls durch den Filter der Horrorliteratur auf die Realität Lateinamerikas blicken. Was ihre Geschichten so furchteinflößend macht, ist der oft bloß angedeutete Bezug auf reale Missstände, auf die ungeheure Ungleichheit Lateinamerikas und die Gleichgültigkeit – oder Brutalität – seiner Institutionen.