Eine Widmung Carl Schmitts : Wer a) sagt, darf auch b) sagen
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Carl Schmitt 1978 Bild: Wolfgang Haut
Carl Schmitt schrieb 1950 in ein Buch, das er Ernst Jünger widmete, ein auf Papst Gregor VII. zurückgehendes Zitat in zwei Varianten. Was hat das zu bedeuten?
Fast jede Schrift, die Carl Schmitt verschenkte, ob aus eigener oder fremder Feder, versah er mit einer Widmung. Martin Tielke hat diese Dedikationen gesammelt und in einer Broschüre zusammengestellt, die im vergangenen Jahr als Nr. 13 der Plettenberger Miniaturen der Carl-Schmitt-Gesellschaft erschienen ist: „,Geniale Menschenfängerei‘. Carl Schmitt als Widmungsautor“. Nicht selten setzt Schmitt in diesen handschriftlichen Vorbemerkungen seine Signatur unter oder über ein Zitat, und zwar nicht ein Exzerpt aus dem dedizierten Werk, sondern eine anderswo hergeholte Sentenz. Tielke charakterisiert Schmitts Widmungen einleitend so: „Sie zitieren aus der gesamten europäischen Bildungsgeschichte und bieten oft einen hermeneutischen Schlüssel für das Buch bzw. lenken den Leser zur ,richtigen‘ Lektüre.“ Funktioniert das? Was sind das für Bücher, deren Sinn Sätze aufschließen sollen, die dort nicht gedruckt stehen? Machen wir eine Probe.
Im März 1950 erschien im Internationalen Universitäts-Verlag Tübingen das 32 Seiten starke Heft „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“, Schmitts erste monographische Veröffentlichung nach dem Auslaufen des Publikationsverbots der Besatzungszeit. Noch im gleichen Jahr ließ Schmitt drei weitere Bücher folgen. Ein Exemplar der „Lage“ versah Schmitt Anfang April mit einer Widmung für Ernst Jünger, die Tielke mit mehreren Druckfehlern wiedergibt.
Das Zitat ist hier ein lateinischer Spruch, dessen zweite Hälfte in zwei Varianten angeführt wird, abgeteilt durch a) und b) und jeweils mit Angabe der Quelle. „Dilexi justitiam et odi iniquitatem / propterea“: Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehasst, deshalb (Tielke übersetzt falsch: „weil“), Version a), hat mich mein Herr mit dem Öl der Freude gesalbt, „unxit me Dominus meus oleo laetitiae“, so der 44. Psalm, beziehungsweise, Version b), werde ich im Exil sterben, „morior in exilio“, so die letzten Worte des heiligen Papstes Gregor VII., „sic ultima verba S. Gregorii VII Papae“.
Korrespondenz aus dem Exil
Reinhard Mehring hat 2017 in einem Aufsatz über das „Lage“-Büchlein in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht eine Interpretation der elaborierten Zueignung an den Schriftsteller vorgeschlagen. Mehring spricht von „einer alternativistischen Widmung“, die es „dem Adressaten“ überlassen habe, „sich auszusuchen, wie die Schrift wohl gemeint sei“. Annette Rink merkt in ihrem Buch über Ernst Jünger und die Antike an, dass Jüngers Lateinkenntnisse an diejenigen Schmitts wohl nicht heranreichten, aber so weit gingen, dass Schmitt den Eheleuten Jünger nach dem Kriegstod ihres Sohnes einen lateinischen Kondolenzbrief schicken konnte. Meint Mehring, dass Schmitt dem fachfremden Empfänger der lateinisch ausgeschmückten Broschüre, dem er 1942 einen thematisch verwandten Sonderdruck „invariabiliter“ dediziert hatte, mit dem Ausdruck unwandelbarer Gesinnung, eine Art Schulaufgabe stellte, unlösbar für Proleten – wie in Jüngers „Zwille“ die Schüler diejenigen Lehrer titulieren, die kein Latein können?
Mehring sortiert die beiden mit a) und b) aneinandergereihten Vervollständigungen des Satzes über die Folgen der Gerechtigkeitsliebe als zwei Arten von Bibelzitat ein, nämlich ein direktes und ein indirektes. „Aus der Bibel“ zitiere Schmitt den Wortlaut des 44. Psalms, den am 25. Mai 1085 in Salerno verstorbenen Gregor VII. „mit letzten Worten der Gottesverlassenheit, die auf die Kreuzigungsszene anspielen“. Aussuchen durfte sich Jünger nach Mehrings Vermutung, welche der beiden Aussagen besser auf die persönliche religiöse Lage des Verfassers passte. „Zwar suchte Schmitt damals 1950 eine Wiederannäherung an die Katholische Kirche; der alte Weggefährte und Freund Ernst Jünger wusste aber sehr genau, dass Schmitt die institutionelle Vermittlung des religiösen Heilsversprechens eigentlich nicht für erforderlich hielt und eine biblische Unmittelbarkeit zu Gott annahm.“ Des vermeintlichen Rätsels Lösung: „Schmitt vertrat eine positive religiöse Grundbejahung und sah sich letztlich, mit dem Öl der Freude gesalbt‘.“
Mehrings „alternativistische“ Lesart des Arrangements der Zitatvarianten führt zu einem kontraintuitiven Ergebnis, das man offenkundig falsch nennen möchte – sofern bei Schmitt überhaupt mit Offenkundigem zu rechnen ist. Wenn der Leser der Widmung sich entscheiden muss, ob der Verfasser, der sich als Liebhaber der Gerechtigkeit vorstellt, dafür mit freudespendendem Salböl belohnt oder aber mit dem Tod in der Verbannung bestraft wird, dann wird zu einer bloßen Möglichkeit herabgesetzt, was Schmitts durchgängig gebrauchter Begriff für die eigene Position nach dem Verbot der Rückkehr ins akademische Amt war. Er sah sich im Exil – deshalb geben später etliche in Plettenberg ausgefertigte Widmungen als Ausstellungsort San Casciano an, das Refugium des aus Florenz verbannten Machiavelli. Es drängt sich also auf, eine Identifikation Schmitts mit dem aus Rom vertriebenen, durch einen Gegenpapst von Kaisers Gnaden ersetzten Gregor VII. anzunehmen, und eine kryptoprotestantische Ablehnung der Heilsvermittlung durch die institutionelle Kirche spräche schon deshalb nicht gegen diese Annahme, weil die bündig vergegenwärtigte Todesszene den aus seinem Bistum verdrängten Nachfolger des Petrus in der existenziellen Stimmung der Unmittelbarkeit zu Gott vorführt, wenn auch laut Mehring in der negativen Variante der Gottesverlassenheit. Nach Tielke hat man in der Prophezeiung eines Todes im Exil eine verborgene Spitze gegen den Empfänger der Widmung zu sehen, weil Schmitt seinem Freund die Heimkehr ins literarische Leben übel nahm.
Die Stimme Gregors VII.
An Mehrings Kommentierung der Widmung für Jünger befremdet ferner, dass er sie als persönliches Bekenntnis des Autors deutet, ohne einen Bezug zum Gegenstand des Buches herzustellen. Es muss doch erstens etwas über eine Abhandlung zur Lage der europäischen Rechtswissenschaft aussagen, dass ihr Verfasser sich mit einer biblischen Formel die Liebe zur Gerechtigkeit zuschreibt. Und zweitens bestimmt der Jurist Schmitt die Lage seines Faches laut Mehrings Referat dadurch, dass er „die Eigenart der Rechtswissenschaft durchgängig von der Theologie“ absetzt. Dann hat Schmitt aber mit Gregor VII. eine Symbolfigur für den Problemkreis seines Buches angerufen, denn der Antagonist Kaiser Heinrichs IV. verkörpert im Gedächtnis des Abendlands das Papsttum der Kirchenreform, die eine Seite im Kampf von Regnum und Sacerdotium.
Dass die gregorianische Partei die Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die geistliche anstrebte, liefert nun ein Argument gegen eine Identifikation Schmitts mit Gregor – wenn man in Schmitt den Kronjuristen im geschichtsphilosophischen Sinne sehen möchte, den Theoretiker der Selbständigkeit und Allmacht eines Staates, der jeden Einfluss einer „indirekten Gewalt“ abwehrt, wie sie früher die Kirche ausübte und in postnationalsozialistischer Zeit gesellschaftliche Kräfte zur Geltung bringen. In Nicolaus Sombarts Exemplar des autobiographischen Rechtfertigungsbuches „Ex Captivitate Salus“ schrieb Schmitt 1951 eines seiner Lieblingszitate, von Theodor Däubler: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.“ Zwanglos scheint unter dieser Losung dann doch wieder denkbar, dass der gefallene Katholik Schmitt sich im gedemütigten Papst Gregor wiedererkannte.
Ist Mehrings „alternativistische“ Prämisse überhaupt plausibel, dass der Leser des Grußes an Jünger zwischen den mit a) und b) bezeichneten Optionen eine Wahl treffen soll? Ungenau ist schon Mehrings Angabe, dass Schmitt die Variante mit dem Psalmschluss „aus der Bibel“ zitiere. Im Psalm steht der Vers nicht in der ersten, sondern in der zweiten Person. Angesprochen wird ein Kämpfer für die Gerechtigkeit, den die christliche Exegese mit Christus identifiziert, weil dessen Name „der Gesalbte“ bedeutet. Nicht erst ab b), sondern von Anfang an, durch die Umwandlung des Psalmtextes von der Du-Form in die Ich-Form, spricht Schmitt mit der Stimme Gregors VII.
Daseinsvorsorge
Dass der sterbende Papst den Psalm zitierte, wussten die Adressaten des von seinen Anhängern verbreiteten Abschiedswortes, und es geriet auch in der Geschichtsschreibung nicht in Vergessenheit. Moderne Historiker wollten allerdings die Abwandlung des Zitats, das Weglassen des Öls der Freude, als Abwendung des Exilanten von der Heilsgewissheit auffassen. Sie meinten, Gregor habe „ingrimmig ein Bibelwort in sein Gegenteil“ verkehrt und sei mit „der sarkastischen Parodie eines Psalmwortes“ auf den Lippen gestorben.
Die maßgebliche Untersuchung über „Die letzten Worte Papst Gregors VII.“ legte der Bonner Historiker Paul Egon Hübinger 1973 in der Reihe der Vorträge der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften vor. Hübinger zeigt, dass Gregor VII. allen Grund hatte, seinen schmählichen Tod für die Verbürgung seines Lohns im Himmel zu halten, weil sein Amt die Nachfolge Christi war, und das hieß: Verfolgung um der Gerechtigkeit willen zu leiden. August Friedrich Gfrörer, ein zum Katholizismus konvertierter Biograph Gregors VII., schrieb 1861: „Es war der Schmerzensschrei unterdrückter Unschuld, was ihm jene letzten Worte auspresste. Die seelische Natur des Menschen vermag diese Pein nicht zu überwinden; ist doch auch der Gottmensch vom Kreuz herab in den Ruf ausgebrochen: Eli, eli lammah sabachtani.“ Mehrings Formulierung von „letzten Worten der Gottesverlassenheit“ schleppt diese psychologische Interpretation weiter, deren Grundlage ein Pseudozitat des vierten der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz ist, ein bloß eingebildetes Echo.
Hinter den Annahmen über die Belastungsgrenzen der seelischen Natur des Menschen macht Hübinger einen Wandel der sozialen Vorstellungswelt aus. „Der schneidende Gegensatz, den Historiker im 19. und 20. Jahrhundert unbedenklich und spontan in Gregors berühmtem Wort empfunden haben, entspringt einer säkularisierten, innerweltlichen Heilserwartung, die schließlich dem modernen Staat die Aufgabe der Daseinsvorsorge für seine Bürger zugewiesen hat, während im frühen und hohen Mittelalter Jenseitsvorsorge als wesentliche Pflicht jeglicher Herrschaft und Obrigkeit betrachtet wurde.“ Daseinsvorsorge – diesen Begriff prägte Schmitts Schüler Ernst Forsthoff, der sich für sein Widmungsexemplar der „Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ Mehring zufolge postwendend „devot zustimmend“ bedankte.
„Leidenstheologie“
Erkannte Schmitt womöglich die Einheit des Gegensatzes in Gregors berühmtem Wort, weil er den modernen Staat vor einem eschatologischen Horizont sah? Auf den Vorstellungskreis von Verbannung und Tod greift Schmitt im „Lage“-Aufsatz zurück, um sein Schema der Entwicklung von Staat und Rechtswissenschaft mit dramatischen Sprachbildern zu illustrieren. Er fordert von seiner Disziplin die Besinnung darauf, dass sie angesichts der Übermacht des planenden, die eigenen Setzungen ständig revidierenden Gesetzesstaates „zum letzten Asyl des Rechtes selbst geworden“ sei. Hannah Arendt versah diese Stelle in ihrem Handexemplar mit einem Fragezeichen am Rand. Am Schluss des Aufsatzes wiederholt Schmitt das Bild, um die Szene mit einem Klischee schauerromantischer Novellistik auszumalen: „In einer Zeit, in der die Legalität zu einer vergifteten Waffe geworden ist, die eine Partei der andern in den Rücken stößt, wird die Rechtswissenschaft zum letzten Asyl des Rechtsbewusstseins.“
In makabrer Überblendung von drastisch-realistischer und bildhaft-visionärer Rede beschwört Schmitt ein dem Fach bevorstehendes Verfolgungsschicksal: „Auch im Terror der Vernichtungsmittel, die eine moderne Naturwissenschaft jedem Machthaber an die Hand gibt, wird eine restlos auf sich selbst zurückgeworfene Rechtswissenschaft die geheimnisvolle Krypta zu finden wissen, in der die Keime ihres Geistes vor jedem Verfolger geschützt sind.“ Hier hat die Autorin von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zwei Ausrufezeichen gesetzt.
Pathetisch verheißt Schmitt seinen Lesern: „Die europäische Rechtswissenschaft braucht nicht mit den Mythen vom Gesetz und Gesetzgeber eines gemeinsamen Todes zu sterben.“ Der folgende Satz verknüpft die Gewissheit des Weiterlebens mit der Erinnerung an eine Vergangenheit, die als Passion bestimmt wird: „Besinnen wir uns wieder auf unsere Leidensgeschichte, denn unsere Kraft wurzelt in unserm Leidvertrauen.“ Was „hier wirksam blieb“, so können wir über diese Rhetorik mit Hübingers Worten über Gregor VII. sagen, war das „Erbe“ einer „Leidenstheologie“, die letztlich auf die Exilerfahrung des biblischen Judentums zurückgeht. Schmitt datierte seine Widmung auf Ostern.
In der Zeitschrift der SS
Laut Hübinger war Gregor VII. „vom realen Wirken des Antichrist“ in seiner Zeit „fest überzeugt, nicht minder aber auch von der Rolle, die dem Inhaber des Petrusamtes als Führer im Kampf gegen diese ungeheure Gefahr für die Menschen obliege“. Das klingt nach der Beschreibung der Rolle, für die sich Schmitt selbst bereithielt, nach dem Katechon, dem Aufhalter. Wäre die Nachahmung des heiligen Papstes Gregor in diesem Sinne der Schlüssel zu Schmitts Schriften des Jahres 1950? Um dieser Vermutung nachzugehen, müsste man wissen, aus welchen Quellen er sein Wissen über Gregor VII. bezog. Würde sich der Aufwand lohnen?
Es gibt zu denken, dass ein so gründlicher und vorsichtiger Interpret wie Mehring sich seinen Assoziationen überlässt, wenn er es nicht mehr mit dem gedruckten Text, sondern mit dem handschriftlichen Paratext zu tun hat. „Distinguo, ergo sum“, schrieb Schmitt 1932 in sein Buch „Legalität und Legitimität“, als er es Ernst Jünger widmete. Mit der Suggestion, dass seine Methode ein kontinuierliches Unterscheiden sei, legte Schmitt selbst die falsche Fährte, auf der Mehring zu der Annahme gelangte, dass auch die bloße Reihung zweier Varianten eines Zitats „alternativistisch“ verstanden werden müsse. Schmitt nutzte seine Widmungen, um seinen Werken private Motti beizugeben. Die Auslegung eines Buches anhand esoterischer Fingerzeige, die von Exemplar zu Exemplar variieren können, wird nie zu sicheren Distinktionen führen.
Hübinger erwähnt, dass Hans Delbrück 1925 in seiner Weltgeschichte die letzten Worte Gregors VII. „psychologisierend“ resümierte: Er „ging dahin im Bewusstsein eines Besiegten“. Um auf das Gregor-Zitat zu stoßen und es auf die eigene Seelenlage anzuwenden, musste niemand gelehrte Literatur studieren. Hübinger fand es sogar im Schwarzen Korps, der Zeitschrift der SS. 1937, im Jahr nach den Angriffen des Blattes auf Schmitt, stand dort in einem Artikel über Thomas Mann mit der Überschrift „Eine Art Nekrolog“ die höhnische Frage: „Hat er wie jener Papst das Wahre geliebt und ging darum in die Verbannung?“