Edgar Selge als Autor : Es funktioniert nur, wenn man es tut
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Der Schauspieler Edgar Selge im Garten seines Münchener Hauses, September 2021 Bild: Finn Winkler
Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt des Herbsts geschrieben: über Familie, Tod, Erinnerung und einen kleinen Jungen namens Edgar. Ein Hausbesuch.
Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. „Ich geh mal üben, sagt mein Vater“, sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.
Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar Selge mit seiner Frau Franziska Walser bewohnt, steht gleich ums Eck vom Nymphenburger Kanal, draußen, auf der ruhigen Straße, spielen die Nachbarsjungen. Edgar Selge hat für seinen Besuch Käse und Brot und Zwetschgenkuchen besorgt, aber man kommt kaum zum Essen, weil es so viele Fragen gibt zu dem Buch, das er geschrieben hat: „Hast du uns endlich gefunden“ heißt es.
Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder.
Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.
Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.
„Ich geh mal üben“, sagt der Vater
„Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir.“
Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.
Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. „Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes“, sagt Selge. „Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion – denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa – ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder –, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung.“
In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.