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Edgar Selge als Autor : Es funktioniert nur, wenn man es tut

Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. „Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle“, sagt Selge. „Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe – und hoffentlich auch die, die es dann lesen.“ Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.

Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. „Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt“, erklärt Selge. „Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht ‚Erinnern‘ nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück.“

Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben – auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.

Ein erkalteter Planet träumt von früher

Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. „Wenn ich das lese“, heißt es einmal, „fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt.“ Die inter­essantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch – und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. „Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch.“

Kommissar Tauber (Edgar Selge) und Kommissarin Obermaier (Michaela May) im legendären Münchner „Polizeiruf 110“ (Folge “Er sollte tot“ von 2006)
Kommissar Tauber (Edgar Selge) und Kommissarin Obermaier (Michaela May) im legendären Münchner „Polizeiruf 110“ (Folge “Er sollte tot“ von 2006) : Bild: BR/TV 60/Julia von Vietinghoff

Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut – bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München – und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. „Was soll ich dazu sagen?“, antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. „Es hat sie gegeben.“

Aber Selge sagt auch: „Das ist keine Abrechnung – für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste.“ Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.

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