Zum Tod des Nobelpreisträgers : Leb wohl, Imre Kertész
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Imre Kertész im Oktober 2009 in Frankfurt Bild: Helmut Fricke
Er war einer der letzten Aufrechten der literarischen Moderne. Wie würde man einem jungen Menschen erklären, wer dieser Imre Kertész war? Und welche Bücher ihm zuerst ans Herz legen? Ein Versuch.
Im Flur unserer römischen Wohnung klingelt das Telefon, wie immer ist eine der Töchter als erste am Apparat. Dann ruft sie quer durch die Wohnung, so laut, dass es der Anrufer hören musste. „Papa, da ist ein Mann am Telefon. Es hört sich an, als ob er gleich stirbt.“ Verstört übernehme ich, sage „Hallo?“.
Da meldet sich eine ältere Männerstimme, sie klingt zugleich weich und hoch, wie die eines Kindes und spricht ein wunderbar geschmeidiges Deutsch, wie nur die kultiviertesten Ungarn es vermögen. Der Anrufer ist Imre Kertész. Das war vor zwei Jahren, und nun ist es also geschehen. Imre Kertész ist gestorben, in seiner Heimatstadt Budapest, am selben Ort, an dem er vor 86 Jahren geboren wurde.
Seine Form des Widerstands: die kluge Naivität
Nie mehr werde ich nun die sanfte Stimme des Mannes hören, der für mich, nach Samuel Becketts Tod, einer der letzten Aufrechten der literarischen Moderne war. Wie würde man einem jungen Menschen erklären, wer dieser Imre Kertész war? Nicht als Schriftsteller, das wäre ein leichtes Spiel, dazu brauchte es nur die genaue Lektüre seiner Bücher, die aber schwerlich vorauszusetzen ist, das habe ich in vielen Gesprächen gemerkt.
Ich würde sagen: Dieser grundanständige Mann war der existentielle Außenseiter per se. Fremd in der Welt, der bürokratisierten Gesellschaft, der Ehe, der Nation und unter Schriftstellern sowieso. Ein Niemals-Mitläufer, Verächter sämtlicher Ideologien, einer der größten Morallehrer meiner Zeit, ein echtes Vorbild fürs Leben. Seine Form des Widerstands war die kluge Naivität. Skeptisch zu bleiben, wo die meisten Bescheid wissen und die Worte gebrauchen als ein für alle Mal ausgestanzte Formeln. Es war ihm nicht gegeben, sich einzufügen in die bestehenden Ordnungen. Seine Isolation in einer Kultur der allgemeinen Komplizenschaft, der Kontrolle und Konkurrenz war vollkommen. Von Ungarns Handlangern des Nationalsozialismus zur Vernichtung bestimmt und wie durch ein Wunder nur überlebend, blieb ihm nach seiner Rückkehr an den geographischen Ausgangspunkt der Bolschewismus ebenso fremd. Aber auch Emigration kam für ihn nicht in Frage. An die Muttersprache gebunden, fügte er, ein Leben im Verborgenen führend wie die antiken Stoiker, in aller Bescheidenheit dem Ungarischen einige Meisterwerke hinzu. Und das war’s, würde ich sagen, darin bestand seine Größe: auszuharren wie ein Sklave auf der Galeere und seine Arbeit zu tun, die einzige, die er wie nur wenige beherrschte, das Schreiben.
Zu Beginn zu lesen: „Ich - ein anderer“
Dass er sich als Ungar, als Jude, als Autor nie einließ auf die üblichen ethischen und ästhetischen Standards (vulgo Kompromisse), war, das wusste er, unverzeihlich. Durchzuhalten, nur darum ging es, jahrzehntelang in der Baracke des Sozialismus auszuharren, um den Job zu Ende zu bringen, den dann, nach dem Fall der ungarischen Zäune (und der Berliner Mauer) die neuen, unerwarteten Leser im Westen begreifen und bewundern konnten als eines der wenigen ganz großen Lebenswerke des Jahrhunderts der Zerstörungen und des Massenmords. Gegen Krankheit und Selbstzweifel und Selbstmordgedanken die Existenz des Zeugen zu bewahren. Sein Lächeln des Überlebenden war eine Freundlichkeit, die man im Westen später leicht mit der beliebten osteuropäischen Melancholie verwechseln konnte. Er wusste ja, wie weit er da hinausgeschwommen war auf den Ozean der Einsamkeit. „Im Hinblick darauf ist mein Judentum nur ein symbolisches Anhängsel.“ Und auch das war ihm bewusst (aber darüber kann man sich streiten, und dieser Streit hätte ihm gefallen): „Nicht der Roman ist tot, sondern der Leser.“