Zum Achtzigsten von Uwe Timm : Der Real-Utopiker
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Ein Humanist, der an die Wandelbarkeit glaubt – des Einzelnen, der Gesellschaft, der Welt: An diesem Montag feiert Uwe Timm seinen achtzigsten Geburtstag. Bild: dpa
Unbegabter zum Zynismus kann man kaum sein, menschenfreundlicher wohl auch nicht: Zum achtzigsten Geburtstag des Schriftstellers Uwe Timm versammelt ein Band Essays, einer Würdigungen und einer Texte zum Werk.
Der Ort: ein Museum. Seine Lage: Asunción, die Hauptstadt von Paraguay. Hier steht Uwe Timm 1984 während einer Recherchereise für seinen Roman „Schlangenbaum“ vor einem seltsamen Gegenstand, der den Schriftsteller auf Anhieb fasziniert: „An einer Bambusstange war an einem Weidenring ein aus feinem Bast gewebtes, sackförmiges Netz befestigt. Um die Öffnung hingen, wohl als Lockspeise, winzig zarte blaue, rote und gelbe Kolibrifedern. Sollten so die bösen Träume gefangen werden? Oder solche, die den Träumer mit einem Glücksgefühl erwachen ließen? Oder galt es, jedweden Traum festzuhalten und später zu deuten?“

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Der Traumfänger, ein indianisches Kultobjekt, ist das heimliche Symbol der neuen Essaysammlung von Uwe Timm. Sie handelt von guten Träumen und von schlechten, von Träumen, die sich nicht zu Ende träumen lassen wollen, vor allem aber von solchen, die gut beginnen, um böse zu enden. Das Besondere all dieser Träume ist, dass sie nur im Kollektiv geträumt werden können, auch wenn es vorkommt, dass es ein Einzelner ist, der den vielen sagen will, was sie zu träumen haben. Uwe Timm nennt solche Träume Utopien. Er sammelt sie. Aber nicht für die Museumsvitrine, sondern um sie zu deuten und zu befragen.
Timms Sammlung setzt ein in Argentinien: „Zwei Männer gehen am Strand entlang, dort, wo der Sand noch feucht und fest ist.“ So lautet der erste Satz des Essays, dem der Band seinen Titel verdankt. „Der Verrückte in den Dünen“ ist Carlos Gesell, der deutschstämmige Begründer der argentinischen Stadt Villa Gesell, der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert eine Art Lebensreform-Seebad in den Wanderdünen des Südatlantiks errichten wollte, ein „weltliches Jerusalem“: ohne Zins, Alkohol oder Glücksspiel, dafür mit der von Gesells Vater nach dem Ersten Weltkrieg entworfenen „Freiwirtschaft“ und einem „Zuchtwahlrecht“ der Frau.
Die bündigste Beschreibung seiner Kunst
Gesell, der „Prophet“, wie er genannt wurde, ist der erste in einer Reihe von charismatischen Visionären, auf die Timm in den Essays zu sprechen kommt: etwa Dr. Francia, der von den Idealen der Aufklärung geprägte Theologe, der als gewählter Diktator auf Lebenszeit mehr als zwanzig Jahre lang wie ein absolutistischer Herrscher in Paraguay regierte, oder Etienne Cabet, der Frühsozialist, der 1848 in den Vereinigten Staaten Land kaufte, um dort sein utopisches Reich namens „Ikarien“ zu gründen. Vierhunderttausend Anhänger und Interessenten sollen sich gemeldet haben, als Cabet in Frankreich für sein Projekt warb. Mehr als ein paar hundert Bewohner hat Ikarien nie gehabt. Es dauerte keine zehn Jahre, bis das Gemeinwesen im Streit zerfallen war.
Timm ist fasziniert von solchen Gegenwelten – von ihrer Theorie ebenso wie von ihrer desillusionierenden Praxis. Den Traum von einer besseren, gerechteren Gesellschaft hat er aus den Debatten der Studentenbewegung hinübergerettet in die weitgehend traumlosen Jahrzehnte, die ihr folgen sollten. Aus dem Scheitern der Ideale hat er andere Schlüsse gezogen als die meisten seiner Mitstreiter. Unbegabter zum Zynismus als Uwe Timm kann man kaum sein, menschenfreundlicher wohl auch nicht. Er ist ein linksgefärbter Humanist, der mit Ernst Bloch am Prinzip Hoffnung festhält und an die Wandelbarkeit glaubt – des Einzelnen, der Gesellschaft, der Welt.