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Dirigent Nikolaus Harnoncourt : Wirklich gereizt hat mich das Unmögliche

Scharlatane, Ekel, Dummköpfe: Nikolaus Harnoncourt (1929 bis 2016) urteilt entschieden über berühmte Musiker, Komponisten und Dirigenten. Bild: ddp Images

Die Erinnerungen des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt erzählen nicht nur etwas über alte Musik. Sie rechnen auch ungeschönt und vergnüglich mit Machtmissbrauch und Verlogenheit des Betriebs ab.

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          Am 5. März vor zwei Jahren starb der Dirigent, Cellist, Sprachbildner und Meisterschnitzer Nikolaus Harnoncourt. Er fehlt an allen Ecken und Enden, weil er anregen konnte, ohne recht haben zu wollen, weil er provozierte, aber Widerspruch ertrug, weil er Phantasie hatte, die durch Partituren gedeckt war, und weil er immer nach Argumenten suchte, die nichts mit seiner Person zu tun hatten. Ein spätes Geschenk an die Nachwelt sind nun seine Erinnerungen über die Entstehung des Concentus Musicus Wien, des von ihm begründeten Spezialensembles für Alte Musik auf historischen Instrumenten, die seine Witwe Alice aus dem Nachlass herausgebracht hat.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Gedacht waren sie für die eigenen Kinder und Enkel; Alice Harnoncourt aber, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang im Ensemble als Geigerin, sogar als Konzertmeisterin mitspielte, entschied zu Recht, dass sie öffentliches Interesse beanspruchen dürfen.

          Es ist ein Buch über ideologische Kämpfe des Musizierens, über die Hochnäsigkeit der akademischen Musikwissenschaft gegenüber den vitalen Musikbegriffen philologisch wie spielpraktisch interessierter Interpreten während der sechziger und siebziger Jahre, ein Buch über listenreiche Jagden nach alten Instrumenten, vor allem aber über die Freude lebenslangen Lernens, das permanente Sich-Zubewegen auf neue Gedanken. Der Klang der Sprache von Harnoncourt, der als Kind des alten Adels in einer Welt des Handwerks und der Landwirtschaft groß wurde, ist wie der seines Musizierens: eigentümlich, markant, voll kräftiger Aromen.

          „Warum muß ich so oft der ,Anführer‘ sein?“

          Nimmt man nur den ersten Absatz, möchte man dieses Buch – konsequent in alter Rechtschreibung – für Literatur halten: „Warum muß ich so oft der ,Anführer‘ sein? Dauernd etwas erfinden und entwerfen, um es in den Sommerferien am Brandhof zu machen? Perpetuum mobile mit Wasser und mit Hebeln – das war mir dann zu kompliziert, ich hab schon geahnt, daß das nicht gehen kann wegen dem Luftwiderstand und wegen der Reibung. Dann hab ich lieber Schmetterlinge in großen Gläsern gezüchtet. Aber wirklich gereizt hat mich das Unmögliche, weil ich immer geglaubt habe, daß es doch möglich ist. Ich habe immer Parteien gegründet, so lange, bis ich gezwungen wurde, dabeizusein, und da ging es dann ums Entkommen. ,Gefolgsmann‘ konnte ich nicht sein. Es gab keine Regeln, die ich anerkennen wollte. Sind so alle Menschen – oder alle Kinder? Dann wurde ich vielleicht zum permanenten Kind.“

          Unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt eröffnete Concentus Musicus Wien das Ostern Lucerne Festival am 1. April 2006 im KKL in Luzern.
          Unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt eröffnete Concentus Musicus Wien das Ostern Lucerne Festival am 1. April 2006 im KKL in Luzern. : Bild: AP

          Der Concentus Musicus Wien, der offiziell 1953 gegründet wurde, hatte sich inoffiziell schon einige Jahre zuvor gefunden: aus lauter Neugier für ältere Musik – von Johann Sebastian Bach und aus der Zeit davor – für alte Instrumente. Durch das Spielen reifte eine Erkenntnis, die eingreifen sollte in die Interpretationsgeschichte: „Man neigt heute zu der Ansicht, jede Modernisierung sei zugleich eine Verbesserung – bei den Musikinstrumenten trifft das absolut nicht zu. Es zeigt sich vielmehr in zahllosen praktischen Versuchen, daß jede Zeit die für die Wiedergabe ihrer Musik optimalen Möglichkeiten besaß.“

          Im Nachgang der eigenen Bildungsgeschichte, einschließlich aller Widerstände, wird auch die Welt im Nachkriegs-Österreich lebendig, als es überall von „alten Nazis“ wimmelte: an den Universitäten, in den Museen und Orchestern. Die Beschreibungen von Harnoncourts Alltag als Cellist der Wiener Symphoniker strotzen vor Antisemitismus und Alkoholismus.

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