Dieter Henrichs Autobiographie : Das Ich, das viel besagt
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An dieser Stelle ein Satz zu den Mitautoren im Spiel mit dem Befragten. Sie umgehen gemeinsam in ihren Fragen und Antworten zumeist die Auseinandersetzungen innerhalb jener Generation. Das ist ein Versäumnis.
In Paris wäre er Existentialist geworden
Immerhin gehörte ja zu den Bedingungen jener außerordentlichen Produktivität der Jahrgänge von 1925 bis 1930 nicht nur die gemeinsame zeithistorische Erfahrung, sondern auch das Wissen voneinander. Sie, zu denen man beispielsweise auch Jürgen Habermas und Ernst Tugendhat zählen darf, schrieben in Bezug auf ihresgleichen.
Es gab Konkurrenz, auch wenn nicht alle Kontroversen ausgeführt wurden. Im vorliegenden Band kommen die Beteiligten aber meistens nur als Kollegen am Fachbereich vor oder als Mitherausgeber irgendwelcher durchaus verdienstvoller Suhrkamp-Bände.
Die geistige Konfliktmasse der Zeit von 1950 bis 1990 wird dagegen leider wenig berührt. Das verwischt ein wenig den Unterschied zwischen einer philosophischen Autobiographie und der Biographie eines Philosophen.
Mitunter blitzt dieser Unterschied trotzdem auf. Henrich studiert ein Semester in Frankfurt, weil Gadamer dort kurzzeitig lehrt, und lernt Theodor W. Adorno kennen, der sich brieflich in den höchsten Tönen über ihn äußert: Ein Wunderkind, das 22-jährig sich mit den subtilsten Problemen der auswendig präsenten „Kritik der reinen Vernunft“ befasse.
Aber Henrich findet, Adorno argumentiere unter seinem, Henrichs Niveau. Das Urteil, Adornos damalige Vorlesung über Dialektik habe einen journalistischen Zuschnitt gehabt, ist angesichts des vorliegenden Textes anspruchsvoll. Man wird auch an anderen Punkten Henrichs Auskünfte als sehr selbstbewusst empfinden.
Adorno? Zu journalistisch!
Doch warum nicht, wenn ein Lebenswerk vorliegt? Mit 33 Jahren ist er Professor für Philosophie in Berlin, und sein Ruf als einer der besten Kenner der von Kant bis Hegel entwickelten Argumente ist unumstritten. Sein Thema ist vor allem die Theorie des Selbstbewusstseins, also die Frage, wie es sein kann, dass wir ein Wissen von uns haben, das allem anderen Wissen vorangeht.
Henrich hat sich in sehr komplexe Gedanken zu dieser Frage auf eine Weise hineingedacht, die ihm die Möglichkeit nahelegte, in einer Art von Zeitsprung genauso wie Autoren denken zu können, die sich dieser Frage erstmals widmeten: Kant, Fichte, Hölderlin und Hegel.
Während er zunehmend dieser Möglichkeit in Studien zu klassischen Texten des Idealismus wie der philologischen Arbeit ihrer Erschließung nachging, wechselte Henrich zunächst an die Heidelberger Universität und schließlich nach München. Die Berufungsgeschichten werden mit manchen Anekdoten nachgezeichnet.
Früh werden in dieser Zeit amerikanische Universitäten auf Henrich aufmerksam, er lehrt aber nicht nur in New York und Boston, samt einer Marihuana-Party in Ann Arbor, sondern wendet sich auch der sogenannten analytischen Philosophie zu.
Marihuana in Ann Arbor
Es ist die Zeit, in der die Philosophie den absurden Unterschied von „kontinentalem“ und „anglo-amerikanischem“ Denken einerseits pflegt und andererseits abstreift. Henrichs amerikanische Vorlesungen, die keine europäischen Sonderwege mit Nietzsche und Heidegger betraten, sondern den Idealismus samt Hegel als nachvollziehbare Argumentation vortrugen, gehören zum Besten, was er geschrieben hat.