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Mary Ruefle Bild: Matt Valentine

Mary Ruefle zum Siebzigsten : Denken als schräge Kunst betrachtet

Wie viele Dichter schreibt sie mit mehreren Sinnen zugleich, aber am wichtigsten sind ihr Neben-, Hinter- und Widersinn: Der amerikanischen Lyrikerin Mary Ruefle zum Siebzigsten.

          2 Min.

          In einer kleinen literarischen Fantasie hat sich der Schriftsteller Clemens J. Setz die Nobelpreisverleihung des Jahres 2027 vorgestellt. Die Stockholmer Türen öffnen sich, der Sekretär der Schwedischen Akademie kommt heraus und verliest den Namen der Preisträgerin: Mary Ruefle. Doch statt der üblichen, etwa zehn Sekunden dauernden Begründung folgt nun ein zehnstündiger Vortrag: „Das wäre eine wunderbare, höchst subversive Aktion.“

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

          Mary Ruefle ist nun gewiss keine aktionistische, Institutionen stürmende Autorin, aber das Wunderbare und somit auch das Subversive ist ihr geläufig: Alles, was ist, existiert, um infrage gestellt zu werden. Ihre Texte handeln vom Staunenswerten, Unverhofften, das subversiv schon allein deshalb ist, weil es allen Erwartungen zuwiderläuft. Wie viele Lyriker schreibt sie synästhetisch, also mit mehreren Sinnen zugleich, aber am wichtigsten sind ihr Neben-, Hinter- und Widersinn. Die Welt, wie die Schrägdenkerin Mary Ruefle sie wahrnimmt und in ihren Texten neu arrangiert, ist nicht erforscht, kartographiert und längst entzaubert, sie ist noch nicht einmal ansatzweise begriffen. Mary Ruefle konfrontiert uns mit unserer eigenen Engstirnigkeit, und weil diese Erfahrung in ihren faszinierenden Texten stattfindet, schenkt sie uns die Illusion, es handle sich um eine faszinierende Begegnung.

          Den Einfall, die Nobelpreisbegründung statt zehn Sekunden zehn Stunden dauern zu lassen, verdankt Clemens J. Setz der Lektüre von Ruefles „Kurzvorlesungen“, einer Sammlung von „poetischen Essays“, die das Genre der Vorlesung durchaus ernst nehmen, ohne seinen Konventionen im Mindesten entsprechen zu wollen. Ruefles Prosaminiaturen über die Stimme, das Gehirn, das Alleinleben oder das Gebet sind selten länger als eine halbe Seite und umfassen manchmal nur ein oder zwei Sätze, darunter auch eigenwillige Definitionen wie die folgende aus der „Kurzvorlesung über die Toten“: „Dichter sind Menschen, die gestorben sind und darüber sprechen, lebendig zu sein“.

          Um Lyrik kreisen auch die beiden Interviews mit Mary Ruefle, die Norbert Wehr zusammen mit verschiedenen Texten der Autorin im vorigen Jahr in einer Ausgabe des „Schreibhefts“ publiziert hat. Erst danach, nämlich in diesem Frühjahr, erschien in der Bibliothek Suhrkamp der Band „Mein Privatbesitz“, eine Sammlung von kurzen Prosatexten, übersetzt von Esther Kinsky. Es ist tatsächlich die erste deutschsprachige Publikation von Mary Ruefle, obwohl sie seit mehr als dreißig Jahren Lyrik veröffentlicht. Für deutsche Leser gibt es also noch viel zu entdecken: Ruefles kalligraphisches „fake handwriting“, ihre „Erasure-Books“, die wie Bildhauerarbeiten mit dem Malerpinsel funktionieren, ihre Kurzvorlesungen und Prosaminiaturen, ihre radikalen Perspektivenwechsel, die Einsichten er­öffnen, aber auch schlichte Worte des Trostes für jene bereithalten, die Eindeutigkeit gewohnt sind und sich schwertun, von ihren Gewohnheiten zu lassen: „Versuche nicht dauernd, das Gedicht verstehen zu wollen, und denke daran: Wenn es dir Freude macht, dann hast du es verstanden“. An diesem Samstag vor siebzig Jahren wurde Mary Ruefle in McKeesport, Pennsylvania, geboren.

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