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Patrick Modianos neuer Roman : Schriftsteller, bitte sofort ans Telefon!

Auch in Patrick Modianos neuem Roman führen die Spuren zurück in das Paris der Kriegs- und Nachkriegszeit Bild: AFP

Zweihundert Prozent Modiano, damit man sich nicht im Leben und nicht in Paris verliert: Der neue Roman des französischen Nobelpreisträgers sucht nach den Spuren alter Schuld und Taten.

          3 Min.

          Mit „fast nichts“ - „Presque rien“ beginnt der neue Roman von Patrick Modiano. Er erschien Anfang Oktober, als die wenigsten mit dem Literaturnobelpreis für den französischen Schriftsteller rechneten, bei Gallimard. „200 Prozent Modiano“ überschrieb die Wirtschaftszeitung „Les Echos“ ihre Besprechung. „Libération“ veröffentlichte eine genauso hymnische Rezension: „Das Wetter ist heiß und schön in diesem neuen Roman, der Altweibersommer dauert praktisch bis an sein Ende.“In inhaltlicher und in klimatischer Hinsicht passt „Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier“ (Damit du dich nicht im Quartier verlierst) perfekt zum diesjährigen Literaturnobelpreis.

          Jürg Altwegg
          Freier Autor im Feuilleton.

          Der Roman beginnt mit einem Telefonanruf bei Jean Daragane, einem in die Jahre gekommenen Schriftsteller, der sich aus der Welt und vom Schreiben zurückgezogen hat. Schon lange hat sein Telefon nicht mehr geklingelt, auch er ruft längst niemanden mehr an. Seit drei Monaten hat er keinen Zeitgenossen getroffen. Sein Name verweist auf frühere Figuren im literarischen Werk des neuen Nobelpreisträgers, seine Charakterzüge und sein Alter sind lauter Hinweise auf Patrick Modiano. In „Pedigree“ war der Erzähler in Kiki Dragane verliebt. Jean wiederum erinnert an Jean Bosmans (in „L’Horizon“) und ist ebenfalls der zweite Vorname Modianos. Jean Daragane wurde im Jahr 1947 geboren, das Modiano, der im kommenden Sommer siebzig wird, lange als sein eigenes Geburtsjahr ausgab. Es war jenes seines kleinen Bruders Rudy, der im Alter von zehn Jahren starb. Das subtile Geflecht aus realen und fiktiven Figuren besteht in diesem kurzen Roman aus vielen weiteren Verzweigungen und Anspielungen.

          Biographische Spuren

          Modiano vergleicht den Anruf mit einem Insektenstich, von dem Dragane zunächst „fast nichts“ spürt, dessen Gift sich aber unaufhaltsam verbreitet. Als unsympathisch, „weich und bedrohlich“ empfindet er die Stimme des Mannes, der mit ihm reden will. Der Anrufer nennt sich Gilles Ottolini. Er hat das vor Monaten bei der Gare de Lyon verlorene Adressbuch des Schriftstellers gefunden. Darin ist die Telefonnummer 423-40-55 eines Guy Torstel aufgeführt, der irgendwie in ein ungelöstes und ungesühntes Verbrechen verwickelt war. Nur seinetwegen hat Ottolini den Schriftsteller in seinem Refugium aufgestört. Daragane aber kann sich an nichts erinnern und weiß schon gar nicht, was dieser Torstel in seinem Adressbuch zu suchen hat.

          Sie treffen sich in der Rue de l’Arcade, nicht weit vom Boulevard Haussmann entfernt, wo Modiano im Haus mit der Nummer 73 gelegentlich seinen Vater besuchte. Er war Jude und mit einer flämischen Tänzerin verheiratet, im Krieg hat er mit den Deutschen gute Geschäfte gemacht und wurde nach jeder Verhaftung wieder freigelassen.

          Ottolini kommt in Begleitung einer jungen Frau, die ihm ein Dossier überreicht. Es enthält das Manuskript seines ersten Romans, Notizen und Aufzeichnungen sowie Passbilder eines kleinen Knaben: „Dieses Kind, das die Distanz einiger Jahrzehnte zu einem Fremden machte, war er selbst.“ Inzwischen ist er ein alter Mann und die „Zeit der Begegnungen“ - ein Titel des Genfer Schriftstellers Georges Haldas - für ihn vorüber. Doch der Insektenstich hat einen unaufhaltbaren Prozess in Gang gebracht. Aus der Abschottung geht es auf die Suche nach Torstel, der dieser Geschichte den trügerischen Schein eines Kriminalromans verleiht. Tat und Täter bleiben im Ungewissen. Die Suche weist in die von Ängsten geprägte Kindheit des Schriftstellers, der von seiner Vergangenheit überwältigt wird.

          Google löst diese Rätsel nicht

          Die Reise führt durch die Zeiten, quer durch Paris - in eine Buchhandlung beim Palais-Royal, nach Montparnasse, bis vor das Moulin Rouge - und nach Saint-Leu-la-Forêt, aus der Gegenwart zurück in die fünfziger Jahre, in ein Haus, in dem das von den Eltern verlassene Kind inmitten trüber Figuren lebte. Sie kamen aus dem Gefängnis. Diebe oder Zuhälter könnten sie gewesen sein. Oder auch Extremisten einer verbotenen faschistischen Partei. Sie verstecken sich vor der Polizei. Viele Rätsel werden offen, Fragen unbeantwortet gelassen - auch wenn es auf Google durchaus Hinweise auf Namen, Adressen, Zusammenhänge gibt. Tatsächlich verfügt Daragane über einen Computer.

          Doch sein Gedächtnis und sein Erinnern will Modiano nicht durch eine Suchmaschine ersetzen: „Die wenigen Personen, von denen er gerne Spuren gefunden hätte, haben sich mit Erfolg der Überwachung durch diesen Apparat entzogen.“ Annie Astrand war Daragane eine Ersatzmutter. Sie floh mit ihm und einem auf den Vornamen Jean gefälschten Pass nach Rom - aber warum und vor wem? Sie steckte ihm ein gefaltetes Blatt zu, auf dem eine Adresse und die Bemerkung, die dem Roman den Titel gibt, vermerkt waren: „Damit du dich nicht im Quartier verlierst.“ Das war die einzige Orientierungshilfe in einem Leben, dessen vergessenen, verlorenen Spuren der Roman in der Retrospektive nachgeht.

          Die Worte an seinem Anfang - „Presque rien“ - sind eine Anspielung auf ein Werk des Philosophen Vladimir Jankélévitch, der als Jude von Vichy aus der Universität verstoßen wurde. Er hatte sich nach dem Krieg, als die linken Intellektuellen den Widerstand, den sie nicht geleistet hatten, zum Imperativ des Engagements verklärten, mit den Fragen des Büßens, Erinnerns, auch des unmöglichen Vergebens befasst.

          Jankélévitch erwähnte die Ungerechtigkeit, dass die Dichter und Denker, die tatsächlich Widerstand geleistet hatten, im Nachkrieg vergessen wurden. Mit seiner Hommage an ihn verankert Patrick Modiano auch noch seinen neusten Roman in der Okkupation und verknüpft sie mit den existentiellen Ängsten seiner Kindheit eines Nachgeborenen. Auf ihnen beruht sein gesamtes Schreiben. Mit „Presque rien“ beginnt auch sein letzter Satz. Leise quietschen die Reifen, ein Auto entfernt sich, und schon bald wird sich der kleine Jean bewusst, „dass er allein im Hause ist“, Ende.

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