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Martin Meyer 70 : Kultur heißt Verknoten und Auflösen

Sind die Juwelen der Castafiore ihm am Ende teurer als alle goldenen Worte aus dem Nachlass Hans Blumenbergs? Manches kritische Urteil bleibt das Geheimnis von Martin Meyer. Bild: Foto Rainer Wohlfahrt

Auch wenn ein Herr mit Binder im Zweifel immer gute Figur macht, ist Bindung noch lange nichts Natürliches: Zum siebzigsten Geburtstag des Feuilletonisten Martin Meyer.

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          Als am 18. September 2014 bei einer Ausstellungseröffnung im Zürcher Landesmuseum der Festredner ans Pult trat, schlug für die Männer im Saal die Stunde der Wahrheit. Der Gegenstand der Schau war die Krawatte, und alle Herren trugen eine oder keine. Was immer nun zum Vortrag kommen sollte, das Lob des Sinns für korrekte Kleidung, der Tadel der Prätentionen gezwungener Lockerheit oder  auch die Negation dieser kulturkritischen Urteile – die Geschlechtsgenossen des Redners mussten es auf sich beziehen. Den Damen war die um eine Stufe anspruchsvollere Aufgabe der Reflexion darüber gestellt, neben wem das Schicksal oder eine bürgerliche Lebensentscheidung sie platziert hatte.

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          Vergegenwärtigt man sich die Szene mit der Hilfe von Kategorien, wie sie Martin Meyer, ihr Protagonist, in seinen eigenen feuilletonistischen Texten verwendet, so kann man zum Beispiel eine religionssoziologische Perspektive ausprobieren. Die Stellung des Vortragenden zu den Festgästen war das funktionale Äquivalent der Position eines Predigers auf der Kanzel, der eine Gemeinde von Sündern anspricht, die je nach Thema der Predigt einen Anlass zur Reue haben oder nicht.

          Meyer legte es indes nicht darauf an, seinen Zuhörern ein gutes oder schlechtes Gewissen zu machen, je nachdem, welche Wahl sie vor dem Spiegel getroffen hatten. Seinem Ruf eines Verteidigers kultivierter Standards blieb er nichts schuldig, aber mit jeder unaufdringlich eleganten Pointe illustrierte er die Grundregel eines nachdenklichen Konservatismus, die in der Kulturwelt auch jenseits des Halsschmucks Gültigkeit hat: Bindung wird auch durch bezwingende Argumente nichts Natürliches, bleibt immer Willenssache.

          Ein 140 Zentimeter langer Vorwurf

          Meyer behandelte die Krawatte als kulturelles Zeichen im Sinne eines unvermeidlichen Distinktionsmerkmals: Auch wer sie ablegt, markiert einen Unterschied, mit dem eine soziale Geltungsabsicht verbunden ist. Wo die Geschmäcker zwangsläufig verschieden sind, wirkt die simple Beschreibung einer Sache durch Verfremdung aufklärend. Wie sieht eine Krawatte aus, wenn man von ihrem Gebrauch absieht? „Das Band läuft über etwa 140 Zentimeter aus, verjüngt sich an beiden Enden konisch und ähnelt in ungeknüpftem Zustand einem amorph vegetierenden Vorwurf.“

          Was für einen Binder Meyer auf dem Fest trug, ist nicht überliefert; dem Abdruck der Rede im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung war kein Autorenfoto beigegeben. Nur die in der Rede erwähnte „frechgelbe Krawatte mit Motiven aus Tim und Struppi“ wird es nicht gewesen sein. Das Stück aus dem eigenen Schrank gab Meyer Gelegenheit zu einem Exkurs über die Herrenkleidung in den Comics von Hergé. „Tim selber kommt einmal mit, einmal ohne Krawatte ins Bild. Für seine Energien spielt das keine Rolle.“ Das ist scheinbar überhaupt nicht informativ, beschreibt eine Haltung purer Indifferenz.

          Meyers Rezension der Tintin-Ausstellung im Centre Pompidou aus dem Jahr 2007 enthält indes eine Charakteristik des  Reporters, die ein Selbstporträt des Feuilletonisten ergibt. „Tim beherrscht das Repertoire sämtlicher Stimmungen: Jung und seltsam alterslos, gibt er sich pfiffig oder verträumt, mutig oder naiv, entschlossen oder philosophisch, wie es die Lage verlangt.“

          Die Macht der Überraschungen naht

          Meyer studierte in Zürich Philosophie bei Hermann Lübbe, der ihn „ein kritisches Verhältnis zu allen überzogenen Vorstellungen der Weltordnung“ lehrte. Lübbes Grundgedanke der Durchkreuzung der Geschichtsphilosophie durch die Kontingenz schimmert in Meyers Formel durch, Tims Abenteuer zeigten, „was die Welt an Überraschungen verheißt“. Meyer schrieb Werkbiographien über Ernst Jünger und Albert Camus. Mal trägt Tim den Kragen offen, mal nicht: Der Leser der Comics sieht, dass in der Kunst nicht der Zufall, sondern die Abwechslung regiert. Immer virtuoser ist es Hergé laut Meyer gelungen, „die Story rhythmisch und musikalisch voranzutreiben“. Hier sprach der Pianist und Musikkritiker, der Gesprächsbücher mit Alfred Brendel und András Schiff produziert hat.

          Wenn Meyer am Ende des ersten Satzes von Beethovens Sonate op. 31 Nr. 1 „eine Liebe zum Detail am Werk“ sieht, „die jede Regung von Aufmerksamkeit in Klang und Rhythmus verwandelt hat“, so ist das Amt eines Feuilletonchefs, das Meyer bei der NZZ erstaunliche 23 Jahre lang versah, von 1992 bis 2015, die gegenläufige Aufgabe: Energisch muss er den kulturellen Stoff so gliedern und variieren, dass er neue Aufmerksamkeit erregt. Heute ist Krawattentag im Feuilleton: Martin Meyer feiert seinen siebzigsten Geburtstag. 

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