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Bernhard Schlink zum Siebzigsten : Vergangenheit, Schuld und Sühne

Dass die Sprache nicht nur in der Literatur, sondern auch für Juristen ein wichtiges Handwerk ist, fällt bei ihm besonders ins Auge: Bernhard Schlink Bild: picture-alliance / Sven Simon

Doppelbegabung: „Der Vorleser“ wurde ein Weltbestseller und „Grundrechte“ ein Klassiker. Ihr Verfasser verbindet die literarische und die juristische Laufbahn mit Eleganz und größter Selbstverständlichkeit: Bernhard Schlink zum Siebzigsten.

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          Juristen schöpfen aus dem, was Menschen ihnen erzählen, und schreiben das Gehörte dann mit Hilfe von Gesetzestexten in Rechtsgeschichten um. Kein Wunder also, dass sich unter Schriftstellern so viele Juristen finden, ob in der Vergangenheit mit Goethe, Kafka und Tucholsky oder in der Gegenwart mit Martin Mosebach, Louis Begley und Juli Zeh. Die Weltliteratur ist gespickt mit Reflexionen über Verbrechen und Strafe. Wenn Bernhard Schlink nun aber von sich selbst behauptet, dass er sich in keiner der beiden Welten richtig zu Hause fühle, in der Rechtswissenschaft nicht, weil er schreibe, in der Literatur nicht, weil er als Jurist arbeite, so ist das von entwaffnender Bescheidenheit. Denn nicht nur hat es der in Großdornberg bei Bielefeld geborene Sohn eines Theologieprofessors in beiden Disziplinen außerordentlich weit gebracht. Bernhard Schlink verbindet auch beide Laufbahnen mit Eleganz und größter Selbstverständlichkeit.

          Sandra Kegel
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton.

          Mit seinem 1995 erschienenen Roman „Der Vorleser“, der inzwischen in dreiundfünfzig Sprachen übersetzt und in Hollywood verfilmt wurde, schaffte es Schlink nicht nur als erster deutschsprachiger Autor auf Platz eins der Bestsellerliste der „New York Times“. Er schrieb gemeinsam mit Bodo Pieroth außerdem das Standardwerk „Grundrechte. Staatsrecht II“, längst ein juristischer Klassiker, um den kein Student des öffentlichen Rechts herumkommt.

          Keine Berührungsängste mit der Unterhaltungsliteratur

          Mit der rätselhaften Liebesgeschichte eines fünfzehnjährigen Gymnasiasten und der zwanzig Jahre älteren Analphabetin Hanna, die eines Tages spurlos verschwindet und dem späteren Jurastudenten in einem Prozess als ehemalige KZ-Aufseherin wiederbegegnet, errang Schlink Weltruhm - und löste zugleich eine heftige Debatte über den Umgang mit dem Holocaust in der Literatur aus, in deren Verlauf Schlink alles Mögliche bis hin zu „Gefühls- und Geschichtskitsch“ vorgeworfen wurde.

          Der stets zurückhaltend auftretende Autor ließ sich davon nicht beirren, begegnete den Vorwürfen mit bedachten Essays über das Vergeben und Versöhnen und verweigerte zudem jegliche Auskunft über etwaige biographische Bezüge des Romans. Im Jahr 2000 legte er mit den Erzählungen „Liebesfluchten“ dann seinen nächsten Bestseller vor, der, mehr als eine halbe Million Mal verkauft, in der für ihn typischen nüchternen Sprache verfasst, von Menschen erzählt, die von Verlustängsten gequält werden. Schlinks Produktivität ist seither ungebrochen. Neben weiteren Erzählungen, Essays und Aufsätzen veröffentlichte er drei Romane, die wie die Vater-Sohn-Geschichte „Die Heimkehr“ (2006) oder seinem RAF-Kammerspiel immer wieder um das Thema der Vergangenheit und der Bewältigung von Schuld und Sühne kreisen. So trifft sich in „Das Wochenende“ (2008) eine Gruppe von Freunden mit einer gemeinsamen radikalen Vergangenheit in der ostdeutschen Provinz, um einen gerade aus dem Gefängnis entlassenen Terroristen in der Freiheit zu begrüßen. Das gemeinsame Wochenende mit den Freunden von einst, die sich längst bürgerlich etabliert haben, Anwälte, Journalisten oder Geistliche geworden sind, ist zum Scheitern verurteilt - und das nicht nur, weil der Sohn des Terroristen auftaucht, um mit allen hier abzurechnen. Schlink schreckt hier vor kaum einer Drastik zurück, wie er auch sonst keine Berührungsängste mit der Unterhaltungsliteratur erkennen lässt.

          Ein Virtuose der Knappheit

          Auch als der Erfolg kam, hat Schlink, der 1987 mit dem Krimi „Selbs Justiz“ zum ersten Mal seine Doppelbegabung vorführte, die Juristerei nicht an den Nagel gehängt. Nach Anfängen in Bonn und Frankfurt ging er kurz nach der Wende nach Berlin und lehrte bis zu seiner Emeritierung 2009 an der Humboldt-Universität öffentliches Recht und Rechtsphilosophie. Außerdem war er von 1988 bis 2005 Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen. Dass die Sprache nicht nur in der Literatur, sondern auch für Juristen ein wichtiges Handwerk ist, fällt bei Schlink besonders ins Auge. Denn auch wenn beide Sphären die Sprache zu jeweils anderen Zwecken einsetzen, möchte man Schlinks lakonischen, ja bisweilen schmucklosen Ton seiner juristischen Herkunft zurechnen. Schlink selbst sieht sich durch seine Heidelberger Herkunft, die Mutter war Schweizerin, in der Tradition des protestantischen Pfarrhauses. Er ist ein Virtuose der Knappheit, dem Schnörkel, jeder Umweg über Bilder und Metaphern fern sind. Inhaltlich aber geht es diesem Autor immer ums Existentielle, um Lebensbilanzen, Abgründe und Seelennöte; die Zurückhaltung seiner erzählerischen Mittel ist dabei seine Stärke im Ringen um Vergangenheit, Verstrickung und Schuld.

          Auch der neue Roman „Die Frau auf der Treppe“ dreht sich um eine undurchsichtige Liebe, die sich erst im Nachhinein aufschlüsseln lässt, anhand eines Gemäldes, das verschollen war und nach Jahrzehnten wieder aufgetaucht ist. Der Roman erscheint Ende August. Bernhard Schlink aber, der in Berlin und Amerika lebt, hat schon vorher Grund zum Feiern. An diesem Sonntag wird er siebzig Jahre alt.

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