Dankrede zum Friedrich-Hölderlin-Preis 2012 : In den Diensten des Dichters
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Hölderlin-Preisträger des Jahres 2012: Klaus Merz Bild: Rüchel, Dieter
Anfang Juni erhielt der Schweizer Erzähler und Lyriker Klaus Merz den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg. Wir dokumentieren seine Dankrede, in der er auch von einem ganz erstaunlichen Besuch beim großen Dichter zu berichten weiß.
Es muss 1965 gewesen sein, als ich nach Tübingen reiste, um Friedrich Hölderlin die Reverenz zu erweisen. Er hatte in meinen frühen Jahren als leuchtendes Muttergestirn hinter Georg Trakl gestanden, und beiden war ich mit achtzehn Jahren recht eigentlich verfallen, Friedrich Hölderlins „Menschenbeifall“ zum Beispiel:
Ach! Der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt,
Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen;
An das Göttlich glauben
Die allein, die es selber sind.
Und: „Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen“, so schloss Georg Trakls „Psalm“
Es war dann mit der Zeit dringlich geworden, hatten fürsorgliche Erwachsene für mich befunden, ein wenig aus beider Sog und Schatten zu treten, denn auch die hohen Ideale und das hymnische Pathos der Gedichte vermochten mich nicht mehr im Gleichgewicht zu halten, sondern machten mich zunehmend schwindliger. Ich verabschiedete mich also langsam von beiden und wandte mich, unter Anleitung eines kundigen Lehrers, entschlossen dem literarischen „Kahlschlag“ zu, den ich weidwach durchquerte – machte mit Günter Eich „Inventur“:
Das ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
So lauten die ersten Zeilen des Gedichts, am liebsten aber mochte ich die zweitletzte Strophe:
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Aber immer wieder standen die Mauern sprachlos und kalt, klirrten im Winde Hölderlins Fahnen und versteinerte Trakls Schmerz meine Schwelle. Denn die Wurzeln aller „neuen“ Meister, denen ich mich in der Folge zuwandte, reichten ebenfalls zurück zum alten Meister und ins existenzielle Fundament seiner Dichtung hinab. Ich studierte den Bau ihrer Texte mit dem einen Auge, durchlitt und genoss sie lesend mit dem anderen Auge – und wartete auf meine eigenen Worte und Sätze, die wirklich gesagt sein wollten:
Das habe mit Jagd zu tun, mit Sehnsucht und könne lange dauern, hielt ich nach Jahren in einem Gedicht fest und wartete weiter. Ich schrieb Gedichte und Geschichten, verschrieb mich zunehmend einer „finsterhellen“ Balance und fragilen Heiterkeit. „Traurigfroh“, in einem Wort geschrieben, heißt es bei Friedrich Hölderlin.
Aufs Neue im Tübinger Turm
Ein Vierteljahrhundert später, die Hälfte des Lebens lag bereits hinter mir, stand ich dann wieder im Turmzimmer des Dichters. Ich sah auf den Neckar hinunter, sah in die sanfte Strömung des Flusses, grüßte die Trauerweiden und wartete auf Hölderlin, der, wie mir schien, hinter einem Paravent verharrte. Ich wollte ihn um einen Rat bitten.
Der Dichter meiner frühen Jugend war ja inzwischen auch älter und seine letzte Behausung, wo ihn Besuche oft mehr gestört als gefreut hatten, längst legendär geworden. – Eigentlich sei da nichts mehr zu sehen, hatte ein weit gereister Kollege noch vor meinem Aufbruch zu mir gesagt, ich ließ ihn reden, verabschiedete mich von meiner Frau, meinen beiden halbwüchsigen Kindern und reiste ab, ohne den wahren Grund meiner Reise preiszugeben.
Ich litt seit den frühen Grandmals meines verstorbenen Vaters nämlich immer öfter an der fixen Vorstellung, eines Tages auch so plötzlich, so schwer und leblos wie ein Findling irgendwo liegen zu bleiben, womöglich vor den Füßen meiner Liebsten.
Dieser Gedanke wurde mir zunehmend unerträglicher, ich erhoffte mir also, wie so oft in schwierigen Belangen meines Lebens, Rat vom Dichter. Und Hölderlin kannte sich ja gründlich aus im Ausharren und Erdauern. Und er kannte sich anderseits auch mit Empedokles aus, dem Heilkundler, mit dem, der die Königswürde ausschlug, dem Philosophen und Dichter, der sich doch seinerzeit ziemlich aufgeräumt und entschlossen in den glühenden Trichter des Ätnas gestürzt hatte.
Der Gedanke an ihn und sein (beinahe) spurloses Verschwinden ließen mich, in meiner wachsenden Verrückung, gar nicht mehr los. Ich trug auch Hölderlins Fragment „Tod des Empedokles“ in der Rocktasche mit:
Ein guter Rat
„Nur keine Sandalen“, bröselte Hölderlin nach geraumer Zeit hinter seiner spanischen Wand hervor und holte mich mit diesem einen spröden Satz in meine eigentliche Wirklichkeit zurück: Ich wollte wieder heim.
Natürlich hatte ich gewusst, dass die verlorene Sandale am Kraterrand Empedokles’ Abgang ein wenig halbbatzig hatte erscheinen lassen. Ich aber trug ja bereits festeres Schuhwerk und wußte doch auch um andere, eigene Wege, abseits vom Kraterrand. Ich wischte mir das Gespinst meiner Einbildung entschlossen aus dem Gesicht und bedankte mich erleichtert für den guten Rat.