Ausstellung im Gleimhaus : Mit Kritik ging sie ironisch um
- -Aktualisiert am
Dichten bis ins hohe Alter: Porträt von Anna Louisa Karsch, gemalt von Karl Christian Kehrer, 1791, Ausschnitt Bild: Gleimhaus Halberstadt
Mehr als bloß großes Reimtalent: Eine Ausstellung im Gleimhaus zeigt die vor dreihundert Jahren geborene Anna Louisa Karsch als erste deutsche Berufsschriftstellerin.
Wer ihren Namen je gehört hat, wird ihn sicher mit den Etiketten „Deutsche Sappho“ oder „begabte Stegreifpoetin“ verbinden. Die vor dreihundert Jahren geborene Anna Louisa Karsch hatte aber deutlich mehr zu bieten. Das zeigt jetzt eine große Ausstellung, die nicht zufällig das Gleimhaus in Halberstadt zeigt. Hier liegen die größten Teile ihres Nachlasses, allein rund tausend liebevolle Briefe, die zwischen der Karschin in Berlin und dem Hausherrn Johann Wilhelm Ludwig Gleim zirkulierten. Außerdem wird hier die reichste Sammlung ihrer Bildnisse bewahrt, nicht zuletzt die erste steinerne Dichterbüste überhaupt.
Objekte aus diesem Bestand sind mit weinroten Bannern versehen in die ständige Ausstellung eingefügt. Das ergibt Sinn, weil fast alle von Karsch in Briefen und Gedichten angesprochenen Personen sich bereits im Freundschaftstempel des Hauses, der vollständigsten Porträtgalerie der Goethezeit, befinden. Gleim war ein fanatischer Sammler und Netzwerker; ohne seinen bewahrenden Eifer wäre wohl auch die Karschin ein rasch verglühendes Meteor geblieben.
Die „Karschin“ in der Kritik
Zu ihrer Zeit war sie indes eine Berühmtheit der Gesellschaften. Ihre Fähigkeit, zu gegebenen Anlässen spontan ein Gedicht schmieden zu können oder aus wenigen zugeworfenen Endreimwörtern ein sinnvolles Poem zu zaubern, war legendär. Die Legende stammte natürlich von Männern, weil sie so schön ins rousseauistische Bild einer von Kultur und Zivilisation unverdorbenen Natur passte. Von Naturempfindungen und reicher dichterischer Einbildungskraft sprechen etwa Herder und Sulzer. Und in den „Briefen, die neueste Literatur betreffend“ wird die „ungemeine Fertigkeiten zu reimen“ anerkannt, zugleich aber mehr Regelwissen und literarische Bildung anempfohlen. Wenn die Karschin „weniger zu dichten und mehr zu prüfen“ bereit wäre, heißt es da herablassend, müsste man in ihren „Auserlesenen Gedichten“ (1764) nicht so „viele mittelmäßige, matte und schlechte“ lesen. Die verstimmte Dichterin hielt Lessing für den anonymen Rezensenten. Als sie dann hörte, dass es Moses Mendelssohn war, setzte sie ironisch nach: „so viel Ehre that mir der Vergötterte nicht ann, ich war tieff untter Seiner Krittik“.
Mit solchen Urteilen über das ursprüngliche Naturtalent räumt die Ausstellung gründlich auf. Ein besonders schöner Kupferstich der in Niederschlesien geborenen „Anne Louise Dürbach, künftige Karschin“ bedient auf den ersten Blick den arkadischen Rokoko-Mythos der ärmlichen Rinderhirtin. Doch bei genauerem Blick erkennt man, dass der Knabe im Kahn, Johann Christoph Grafe, dem Mädchen mit sehnsüchtig ausgestrecktem Arm ein Buch überreicht. Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung rekonstruiert aus Briefen und Dokumenten eine erstaunliche Liste von Lektüren, die von der Jugend über die unglücklichen Ehejahre bis zum Aufstieg als Berliner Dichterin und ersten Berufsschriftstellerin in Deutschland ständig zunimmt.
Stilisierungen, fremde und eigene
Natürlich bediente die Karschin mit vielen autofiktionalen Gedichten auch selbst die Stilisierungen, die andere von ihr entwarfen. Besonders gilt das für „Belloisens Lebenslauf“, der meist in einer kurzen Version abgedruckt wird. Die Ausstellung zeigt jetzt aber auch die Reproduktion von „Belle Louises“ eigener Handschrift, die 209 statt 46 Verse umfasst und auch in einer von der Katalogherausgeberin Ute Pott vorgelegten Neuedition der „Briefe und Gedichte“ zu finden ist. Die Kürzungen gehen wohl auf die Tochter Caroline Luise von Klencke zurück, die ebenfalls Dichterin wurde – wie auch deren Tochter Helmina von Chézy, die zu den frühesten Journalistinnen und Korrespondentinnen (aus Paris) überhaupt zählt.
Dieser bemerkenswerte Stammbaum von Schriftstellerinnen findet in der Ausstellung durch Porträts und Werke Berücksichtigung. Auch sonst gibt es im Gleimhaus viel zu entdecken, besonders hervorgehoben werden Tränenspuren in Briefen, die von der Handschrift umkurvt werden. Im ersten Schreiben redet die Karschin den Hausherrn als ihren „Bruder in Apoll“ an. Später fragt sie, ob ihre „briefflein“ wohl nicht nur ihm und seinen Freunden, sondern auch der „folgewellt“ gefallen werden. Nach Besuch dieser schönen Halberstädter Ausstellung ist mit einer positiven Antwort zu rechnen.
Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk. Im Gleimhaus, Halberstadt; bis zum 30. April 2023. Der Katalog (Wallstein Verlag) kostet 24 Euro.