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Peter Pulzer gestorben : Liberal sein heißt zuhören können

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In Oxford bekleidete Peter Pulzer am All Souls College, dem College der Staatsmänner, den nach dem großen liberalen Premierminister William Ewart Gladstone benannten Lehrstuhl. Bild: ddp

Er schrieb das Standardwerk zum politischen Antisemitismus: Der aus Wien gebürtige Oxforder Historiker Peter Pulzer ist gestorben.

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          Wie Alfred Grosser und Fritz Stern zählte der britische Politikwissenschaftler und Historiker Peter Pulzer zu der Gruppe jüdischer Emigranten, die sich jeweils mit ihrer neuen Heimat tief verbunden fühlten und doch bereit waren, die Nachkriegsdeutschen bei ihrer Suche nach der liberalen Demokratie als unverdrossene Bewährungshelfer zu begleiten.

          Dank seiner Herkunft war Pulzer eng mit der deutschen Sprache und Geschichte vertraut, nach der Verfolgung und Vertreibung seiner Familie von derselben Kultur zutiefst entfremdet. Bis zuletzt betonte Pulzer, weder die Deutschen noch die Österreicher könnten sich der Last der Geschichte „wegen guter Führung“ entledigen. In seinen Arbeiten setzte er sich mit dem Aufstieg des modernen Judenhasses und der Zerstörung der liberalen Demokratie auseinander.

          Das Versagen der liberalen Parteien

          Seine Monographie „Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich, 1867 bis 1914“ erschien 1964 auf Englisch und 1966 auf Deutsch. George L. Mosse lobte sie als Standardwerk. Der Erfolg des populistischen Antisemitismus, so Pulzers These, sei nur möglich gewesen, weil die liberalen Parteien der Zeit versagt hätten. Weder auf die sozialen Verwerfungen noch auf den Siegeszug der modernen Demokratie hätten sie eine überzeugende Antwort gefunden. Die Kritik am Populismus des modernen Antisemitismus habe nur dann Sinn, wenn der Liberalismus für eine Form des demokratischen Zusammenlebens eintrete, welche die Bedürfnisse der Menschen („human needs“) ernst nehme.

          Bis heute ist das Buch der Ausgangspunkt jeder ernsthaften Be­schäftigung mit dem Thema. Als Au­­tor und Herausgeber, als Vorsitzender des Beirats des Londoner Leo-Baeck-Instituts und vor allem auch als Mentor hat Peter Pulzer bis zu seinem Tod der Erforschung sowohl des Antisemitismus als auch der deutsch-jüdischen Geschichte immer wieder neue Perspektiven eröffnet.

          Peter Pulzer wurde am 29. Mai 1929 in Wien geboren. Seine Mutter war eine Handarbeitslehrerin, der Vater Bauingenieur, beide standen der Sozialdemokratie nahe. Bis die Familie im Februar 1939 nach Großbritannien emigrierte, lebte sie in der Brigittenau, einem Arbeiterviertel. Die Pa­settistraße 24 lag nur einen Steinwurf von dem Männerwohnheim in der Meldemannstraße entfernt, wo wenige Jahre zuvor Adolf Hitler seine Postkarten gemalt hatte, wie Pulzer gerne erzählte. Dem Schmäh seiner Ge­burtsstadt blieb er verbunden: Wien sei „wunderbar“, schrieb er wenige Jahre vor seinem Tod an einen jüngeren Kollegen, „wenn man nicht ge­zwungen ist, dort zu leben“. Dass der Historiker 1984 in Karl Luegers Rathaus einen Vortrag über den österreichischen Antisemitismus halten durfte, empfand er als Genugtuung.

          Voraussetzungen einer toleranten Gesellschaft

          Pulzers eigentliche Leidenschaft als Wissenschaftler galt der Frage nach den Voraussetzungen der liberalen Demokratie und einer toleranten Gesellschaft. Sein hohes Ansehen in Großbritannien verdankte der Glad­stone Professor of Government and Public Administration am All Souls College in Oxford seinen politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte der Wahlen und der repräsentativen Demokratie. Wie seine Essays in der „London Review of Books“ zeigen, verstand Pulzer unter Liberalismus keinen festen Kanon normativer Gewissheiten, sondern die Fähigkeit, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten.

          Peter Pulzer studierte am King’s College in Cambridge und wurde 1962 zum Official Student and Tutor im Fach Politik in Christ Church, einem der berühmtesten Oxforder Colleges, ernannt. 1985 wechselte er nach All Souls.
          Peter Pulzer studierte am King’s College in Cambridge und wurde 1962 zum Official Student and Tutor im Fach Politik in Christ Church, einem der berühmtesten Oxforder Colleges, ernannt. 1985 wechselte er nach All Souls. : Bild: Sarah Bown

          Auf die Frage nach grundlegenden Texten zur Demokratietheorie nannte er sichtlich vergnügt Helmut Schelskys idiosynkratische Studie „Die Arbeit tun die anderen“. Im Historikerstreit und in der Goldhagen-Debatte vertrat Pulzer zwar klare Haltungen, ließ sich aber von keiner Partei vereinnahmen. Höflich und bestimmt warnte er stattdessen mit John Stuart Mill vor jenen, die sich weigern, zuzuhören, weil sie von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt sind.

          Die resozialisierten Deutschen und Österreicher wussten ihrem lebensklugen, geistreichen und charmanten Wegbegleiter zu danken. Die Universitäten in Innsbruck und Wien verliehen ihm 2007 beziehungsweise 2012 die Ehrendoktorwürde, 2004 erhielt er das deutsche Bundesverdienstkreuz, 2008 das Große Silberne Ehrenzeichen Österreichs.

          Er sei das Licht am Ende des Tunnels, verkündete der Historiker im September 1995 leise und mit Wiener Akzent, bevor er seinen Kommentar zum Abschluss einer dreitägigen Konferenz am Lincoln College in Oxford sprach. Am 26. Januar ist Peter Pulzer in Oxford im Alter von 93 Jahren gestorben. Es bleibt die Erinnerung an einen wunderbaren Menschen, zumal an seine lachenden Augen, und für die Liberalismus-Forschung die Gelegenheit, das breite Oeuvre eines brillanten Gelehrten neu zu entdecken.

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