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Alexander Kluge wird 90 : Das kritische Wimmelbild

Man hat ihn einen Ein-Mann-Nachrichtendienst genannt: Alexander Kluge in einer Aufnahme aus dem Jahr 1982 Bild: Getty

Ein hoch organisierter literarischer Sozialarbeiter: Zum neunzigsten Geburtstag des Schriftstellers und Filmemachers Alexander Kluge.

          4 Min.

          Über Alexander Kluge zu schreiben heißt, Alexander Kluge hinterherzuschreiben. Seit seinem achtzigsten Geburtstag vor zehn Jahren hat er, wenn wir richtig gezählt haben, mindestens sechzehn Bücher veröffentlicht, fünf davon zusammen mit anderen Autoren. Hinzu kommen zahlreiche Filme und Kurzfilme, Hörspiele und Gespräche. Kluge scheint nicht viel zu schlafen.

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

          Seine Werke bestehen dabei seit jeher meist aus Hunderten von Geschichten, erfundenen und tatsächlichen Anekdoten, skizzierten Lebensläufen und Szenen sowie merkwürdigen Hypothesen. Es teilt sich in ihnen die kontinuierliche Unruhe eines Autors mit, der an so gut wie allem Interesse findet und sich schon deshalb vom Verfassen langer Texte unnötig aufgehalten sähe. Nicht einmal in seiner Dankesrede zum Büchner-Preis, den er im Jahr 2003 erhielt, konnte er sich zu einem durchgehenden Text entschließen, sondern trug Beobachtungssplitter vor.

          Seine kurzen Stücke handeln, greifen wir nur Einiges aus den jüngsten Büchern heraus, vom Unterschied zwischen Reparieren und Heilen. Von Viren und ihrer „intelligenten Gewalt“, die planlos und reagibel ist. Sie handeln vom Wort „Selbst“ in der chinesischen Schrift. Von den Eigenschaften der Gorillas im Hinblick auf King Kong. Von einem angeblichen Treffen und Gespräch über Liebeskummer zwischen Adorno und Luhmann, das laut Kluge einfach stattgefunden haben muss. Von der Geschichte der Militärärzte und der Vergnügungsparks. Von Kluges Kindheit und seinen Eltern. Immer wieder von Kriegen, ihren Schlachten und den Umbrüchen der Erfahrung, die sie mit sich bringen.

          Mehr Glück als Verstand

          Auf den ersten Blick kann man zweifeln, ob dies alles mehr als durch den Sammeltrieb des Autors, das Universum und die Fadenheftung zusammenhängt? Historisch trägt es Materialien zu einer Weltgeschichte der Bundesrepublik und ihrer Mentalitäten bei, die mit zwei vorangegangenen Kriegen verbunden sind. Kluges erste große Bücher nach seiner juristischen Dissertation erzählten von deutschen Lebensläufen (1962), der Schlacht bei Stalingrad (1964) und dem Angriff auf seinen Geburtsort Halberstadt (1977), dem er 1945 nur knapp – zehn Meter zwischen ihm und dem Einschlag der Sprengbombe – entronnen war. Der Mensch, sagt Kluge einmal, habe mehr Glück als Verstand.

          Von dieser Sentenz führt ein kurzer Weg zu seinem journalistischem Ingenium, zur Bewunderung von Kleists Novellen und Hebels Kalendergeschichten. Die Geschichten hängen wie die Zeitung durch die Gegenwart und also durch ein hohes Maß an Gleichzeitigkeit zusammen, selbst dort, wo sie weit in die Vergangenheit ausgreifen, weil Kluge keine historische Forschung, sondern Vergegenwärtigung betreibt. Zutreffend hat man ihn einen Ein-Mann-Nachrichtendienst genannt. Wenn er von Aufklärung spricht, schwingt die militärische Bedeutung des Begriffs stets mit. Der moderne Simplizissimus durchstreift keine zerstörtes Gelände, sondern die Archive des Mitgenommenseins von politischer Gewalt und ihren Kontingenzen. Der Krieg ist nach Clausewitz ein Chamäleon, es kommt in ihm stets anders als man denkt. Er ist darum auch das große Paradigma dafür, dass es mit dem längerfristigen Planen nichts ist.

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