Archipel Jugoslawien : Drohnenflug
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Brennendes Hochhaus in Sarajevo, 19. Juni 1995, fotografiert von Anja Niedrighaus Bild: dpa
Ein verwirrter Engel und wie man das eigene Martyrium in der Kunst liebt: Der literarische Essay eines bosnischen Lyrikers über dreißig Jahre.
Die Geschichte der Argonauten
Im Jahre 1982 ging ich in die achte Klasse
und schrieb für den Wettbewerb “Auf Titos Pfaden der Revolution”
eine Geschichte
über drei Brüder – Omar Toma und Ljuba
Ich nannte sie nach drei Eisenbergwerken
Omar Omarska
Toma Tomašica
Ljuba Ljubija
Mein Gewinnerpreis war ein Sommerurlaub
an der Adriaküste in Medulin
Zehn Jahre später
wurden Massengräber gefunden und weitere zwanzig gesucht
in Omarska Tomašica Ljubija
Ljuba tötete Omars
Toma versteckte Leichen in Bergwerken
Ich schrieb eine Geschichte
über die Argonauten
und Rippen vom Goldenen Vlies im Eisenerz gefunden
zu Stahl eingeschmolzen
Daraus wurde ein Schiff gegossen
Den Preis erhielt ich
um dieses Schiff zu lenken
Zurück auf dem Pfad der Revolution
/Mali ekshumatorski eseji/Kleine Essays über die Exhumierung, D. Cvijetić, Zadužbina Petar Kočić, Banja Luka, Beograd, 2015/
1991
1. BETTDECKEN DER MARKE AMBASADOR, VUKOVAR
Gekrümeltes Brot,
in Handflächen
hinausgetragen aus dem Vogelhunger.
Derjenige, der das träumt,
wird mir sagen, ich stand am Wasser. Es könnte das Jahr 1991 gewesen sein.
Ich wusch mir das Gesicht, gebeugt über die Badewanne,
und ein Gedanke durchströmte mich – es wird Krieg geben!
2.
Ich lese in der Zeitung über einen Arzt in einer Kinderklinik, der Geräte besorgt, um auf das Deckengewölbe eines Krankenzimmers einen Sternenhimel zu projizieren. Ich will nicht, sagt er, dass unsere Kinder mit einem leeren Blick sterben, ohne irgendwas!
1992
1. BLUT WIRFT KEINEN SCHATTEN
Den ganzen Herbst kämpften wir bei Bihać um das Stück Land bei Grabež.
Dort befindet sich jetzt ein Flüchtlingslager für Menschen aus Syrien.
Ja, Siniša kam auch bei Grabež um.
An dieser Stelle sitzt jetzt ein dunkelhäutiger junger Mann auf dem Boden.
Am Smartphone schaut er die Fotos seiner fünfjährigen Tochter an und weint.
2.
In Sarajevo tötete ein Scharfschütze mein Kind im Arm, sagt Hasija.
Hätte ich es nicht getragen, hätte die Kugel mein anderes Herz getroffen.
1993
1. EIMER AUS ERDE, MIT ERDE GEGOSSEN
Holst du jemandem das Herz heraus und legst es sogleich in warmes Wasser,
aber schnell, schnell, dann wird es noch ein paar Mal schlagen, bis zu sieben Mal, und erst dann wird es die Farbe von Spucke alter Menschen annehmen
und in sich zusammensacken.
Wer staunt über das Stehenbleiben des ersten Herzens?
Wer hat beim ersten Stehenbleiben zugeschaut, mit Augen,
eingeölt durch stummes Gebet?
2.
Auf dem vergessenen Bahnsteig bei Keksara
wächst der Waggon, mit Rost bespritzt, in einen anderen Namen hinein.
Indessen sagt der heilige Franjo:
Tötet dich eine Granate, gibt es keine Schlaflosigkeit,
gibt es kein Wasser unter den Wimpern,
und der Traum weiß nicht, auf welcher Seite er brennt.
1994
1. DER AUSTAUSCH DER TOTEN AUF DEM BERG VLAŠIĆ
Oma hütete ihren Haarzopf,
abgeschnitten bei der Konfirmation
vor 75 Jahren.
Dejo hat bei der Chemotherapie sein Haar verloren
und er erzählte uns im Büro:
Sie brachte mich in ein dunkles Zimmer.
Oma hat da was für dich, sagte sie,
in einer Schachtel ganz unten im Regal ein weißer Haarzopf,
getrennt von ihr ist das Haar ergraut,
Dejo schwor es.
2.
Oma, was soll ich mit deinem Haar?
Mach dir eine graue Perücke,
dein Sohn soll darin alt werden.
1995
1. EINE BUCHSE VOLLER SCHNEE
Der Sommer war entsetzlich. In Prijedor zogen an mir mehr als 100 000 Menschen vorbei, Flüchtlinge vor der kroatischen Militäraktion.