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Silvesternacht in Köln : Schwarzers Comeback als Kassandra

Alice Schwarzer Bild: dpa

Alice Schwarzer versammelt Texte zur Silvesternacht von Köln und kritisiert die falsche Toleranz gegenüber dem Islam. Doch in dem Buch wimmelt es von Spekulationen statt Analysen.

          3 Min.

          Gut vier Monate danach ist das Buch da: „Der Schock – Die Silvesternacht von Köln“. Vorgelegt hat es Alice Schwarzer, in deren „nur 15 Fußminuten vom Kölner Bahnhof entfernten Emma-Redaktion“ in den Wochen danach „JournalistInnen aus aller Welt“, wie sie früh erwähnt, „defilieren“. Aber zunächst erzählt sie, wie sie am „13. Februar 2016, 11 Uhr“ den „großen ovalen Heumarkt, der für Goethe der ,schönste Platz Europas‘ war“, überquert, was gleich das erste Staunen hervorruft, denn der ist längsrechteckig und das Zitat nicht belegt, überliefert ist nur, dass der Dichter sich dort aufgehalten hat. Nun ja, tut nichts zur Sache und ist vielleicht doch eine Auskunft darüber, wie es um die Genauigkeit und Wahrnehmung der Autorin bestellt ist.

          Andreas Rossmann
          Freier Autor im Feuilleton.

          Von Alice Schwarzer stammen vier der elf Beiträge, drei sind Nachdrucke (aus den Jahren 2002, 2005 und 2010), nur der erste ist neu: „Silvester 2015, Tahrir-Platz in Köln“. Was der Klappentext „minutiös recherchiert“ nennt, weiß jeder, der die Berichterstattung aufmerksam verfolgt hat: Schwarzer beschreibt das Versagen und die Überforderung der Polizei, die das Ausmaß der Übergriffe erst vertuscht und dann scheibchenweise veröffentlicht hat, sie stellt Fragen zu Verantwortung und falschen Rücksichtnahmen, schildert das „Inferno“ einer Mutter und ihrer halbwüchsigen Kinder sowie das couragierte Eingreifen eines syrischen Migranten, der eine junge Amerikanerin „gerettet, getröstet und vor noch mehr Leid beschützt“ hat.

          Bisher keine Belege

          Vor allem aber geht es Alice Schwarzer um die Täter. Noch gibt es nur „130 beschuldigte Ausländer“, „ein kleiner, willkürlicher Ausschnitt der weit über 1000 Männer“ doch Schwarzer weiß schon, wer sie sind und was sie verband. In dem einunddreißig Seiten langen Text machen sie stramm Karriere: Erst sind sie „,Nordafrikaner oder Araber‘, also Muslime“, dann „schriftgläubige Scharia-Muslime“, dann „fanatische Anhänger des Scharia-Islam“ und „Islamisten“, auch wenn sie sich „vermutlich nie so bezeichnen“ würden.

          Jede Weiterqualifizierung stellt die Autorin in größere Zusammenhänge: dass in den Herkunftsländern Marokko und Algerien immer mehr Menschen ihr Heil in der Religion und im Überlegenheitswahn suchen, dass der Islam den „entwurzelten und haltlosen“ Männern eine Identität und ein Ziel gebe, ja, für sie nicht nur eine Glaubensfrage, sondern vor allem eine politische Strategie sei. Kann ja sein, nur gibt es bisher keine Belege dafür, dass es sich bei den Beschuldigten um „mehr“ als einen desintegrierten Mob handelt, der, perspektivlos und verroht, seine Frustrationen mit brutaler, niederträchtiger Gewalt ausgelebt hat. Schwarzers „Analyse“ ist Spekulation.

          Bild: Verlag KiWi

          Der Ineinssetzung des Titels „Tahrir-Platz in Köln“ haben ägyptische Aktivistinnen früh widersprochen: „Man kann die sexuellen Angriffe auf dem Tahrir-Platz aus vielerlei Gründen nicht mit den Ereignissen von Silvester in Köln vergleichen“, schrieb Mariam Kirollos auf ihrer Facebook-Seite. In Kairo hätten – zumindest anfangs – Schlägerbanden dahintergesteckt, die im Dienst entmachteter Funktionäre des Mubarak-Regimes standen (F.A.Z. vom 15. Januar). Auch die in Kriegsgebieten tätige Ärztin und Frauenrechtlerin Monika Hauser machte andere Ursachen und Umstände aus: „Das ist ein Phänomen, das für Köln neu ist, das wir aber weltweit beobachten. Je patriarchalischer eine Gesellschaft ist, desto mehr erkennen Jungs schon früh, dass Mädchen angeblich nichts wert sind und sie sich nehmen können, was sie wollen“, sagte sie dieser Zeitung (F.A.Z. vom 22. Januar) und verwies auf Großstädte in Brasilien oder Indien, „wo Männer in der Gruppe auftreten, Frauen eingeschlossen werden und letztlich keine Chance haben, sich zu wehren“.

          Über die Frage, ob es (zuerst) um Religion oder um den Machterhalt der Männer geht, wird unter Feministinnen heftig gestritten. Beide Seiten werfen der anderen Sexismus und Rassismus vor. Dass Schwarzer große Widersprüche ignoriert und (vermeintlich) kleine – wie den zwischen Scharia und Alkoholkonsum – als Doppelmoral abtut, macht ihren Schnellschuss, auch wenn ihre Mitautoren, darunter Necla Kelek, Bassam Tibi und Kamel Daoud, differenzierter argumentieren, wenig überzeugend.

          Aber womöglich geht es Alice Schwarzer in „Der Schock“, den ein unausgesprochenes „Ich habe es schon immer gesagt“ durchzieht, weniger um Aufklärung als darum, mit ihrer schon früher geäußerten Kritik einer falschen Toleranz gegenüber dem Islam recht zu behalten und ihre eingebüßte Rolle im öffentlichen Diskurs zurückzugewinnen. Comeback als Kassandra? Mit einem Bändchen, das sie nicht auf der Höhe ihres Scharfsinns zeigt, dürfte das schwerfallen.

          Alice Schwarzer (Hrsg.): „Der Schock – die Silvesternacht von Köln“. Mit Beiträgen von Kamel Daoud, Necla Kelek, Bassam Tibi u.a. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2016. 144 S., br., 7,99 €.

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