Vor dem Literaturnobelpreis : Murakami? Alexijewitsch? Roth?
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Der große Moment: Peter Englund, Sekretär der Schwedischen Akademie, verkündet den Literaturnobelpreisträger Bild: dpa
Ein Amerikaner wäre überfällig, ein Autor aus Fernost unwahrscheinlich. Noch können wir für ein paar Stunden vom Sieg unserer Favoritinnen träumen: Warten auf die Bekanntgabe des Literaturnobelpreisträgers.
Dieser Artikel verfällt heute um 13 Uhr. Nicht weil sich dann meine Überzeugungen geändert hätten, sondern weil exakt zu dieser Zeit eine würdige Persönlichkeit in Stockholm vor die Kameras treten wird, um das bestgehütete Geheimnis der literarischen Welt zu enthüllen: den Namen des diesjährigen Gewinners des Literaturnobelpreises.
Das ist die wichtigste Auszeichnung, die ein Schriftsteller erhalten kann, nicht nur, aber auch, weil es ein extrem hoch dotierter Preis ist: Acht Millionen schwedische Kronen bekommt der Gewinner, mehr als 900.000 Euro. Finanziert wird das immer noch aus den Erträgen des Stiftungsvermögens von Alfred Nobel, dem Erfinder des Dynamits. Mit dem nach ihm benannten Preis hat er einen neuen Sprengstoff entdeckt. Die Vergabe spaltet die Welt.
Wer wird ihn erhalten? Die Deutsche Presseagentur schickte gestern zwei Namen ins Land: den Japaner Haruki Murakami und die weißrussische Publizistin Swetlana Alexijewitsch. Dieser Tipp war einfach, man musste nur die Wettquoten der britischen Buchmacher (diese Bezeichnung erhält in diesem Kontext ganz neue Plausibilität) konsultieren. Wobei zwischen diesen beiden Favoriten noch die Kanadierin Alice Munro rangiert, und ziemlich knapp hinter Alexijewitsch die Amerikanerin Joyce Carol Oates folgt. Drei Frauen im Favoriten-Quartett – nicht schlecht, auch wenn Murakami mit Abstand in der Gunst der Wetter vorne liegt.
Aber das wird ihm nichts nutzen, obwohl es so schön wäre. Murakami wäre der populärste Preisträger in der Geschichte des Literaturnobelpreises, die immerhin bis 1901 zurückgeht. Der Japaner wird rund um die Welt gelesen, von Literaturliebhabern wie rein Unterhaltungsbedürftigen gleichermaßen, und beide Gruppen finden ihre Erwartungen aufs Schönste erfüllt. Der Haken: Im vorigen Jahr hieß der Gewinner Mo Yan und kam aus China. Wenn man bedenkt, dass der Literaturnobelpreis in seiner langjährigen Geschichte nur selten den westlichen Kulturkreis verlassen hat und wie strategisch die schwedische Akademie, die ihn vergibt, denkt – man kann leicht von Proporz sprechen, wenn man sich die Liste der letzten zwanzig Preisträger ansieht –, dann ist nahezu ausgeschlossen, dass die Auszeichnung in diesem Jahr schon wieder nach Fernost geht.
Aber die drei favorisierten Damen. Am liebsten wäre mir Swetlana Alexijewitsch. Sie wird am Sonntag in Frankfurt am Main mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, dem bedeutendsten Kulturpreis dieses Landes. Es ist ein offenes Geheimnis, dass dessen Jury ihre diesjährige Entscheidung im Wissen darum gefällt hat, dass Alexijewitsch schon damals eine heiße Kandidatin auf den Nobelpreis war. Dass sie bis vor wenigen Tagen gar nicht bei den Buchmachern auftauchte, dann aber plötzlich in die Spitzengruppe schoss, macht sie zum aussichtsreichsten Tipp. Bei Herta Müller, der letzten deutschen Gewinnerin, war es 2009 genauso. Irgendwer aus der Akademie plaudert immer vorab.
Es fehlt der Akademie an Mut
Ihre Auszeichnung wäre auch endlich einmal eine politisch mutige Wahl. Daran mangelt es der Akademie, im Gegensatz zu ihren Kollegen in Oslo, die den Friedensnobelpreis verleihen. Den Preis für den staatstreuen Mo Yan musste man im vergangenen Jahr fast als Kompensation für die Auszeichnung des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo mit dem Friedensnobelpreis von 2010 betrachten, auch wenn an Mos literarischer Bedeutung keine Zweifel bestehen.
Swetlana Alexijewitsch ist im Land des Diktators Lukaschenka eine der wenigen Gesellschaftskritikerinnen. Ihre Gesprächsbücher sind höchst kunstvoll arrangiert. Die Wahl dieser Autorin würde indes eine andere Debatte auslösen: ob der Preis literarisch gerechtfertigt wäre, wo die weißrussische Schriftstellerin doch weitgehend nur Stimmen montiert. Ich sage: Er wäre es. Wer Alexijewitschs Bücher liest, wird sie nie wieder vergessen. Nicht nur des Inhalts wegen, sondern auch dank ihrer literarischen Intensität. Das ist große Kunst.
Zudem wäre es Zeit, nach Herta Müller wieder eine Frau zu küren, und solche Erwägungen darf man nicht außer Acht lassen. Also haben auch die älteren Damen Munro und Oates gute Chancen, zumal Nordamerika lange nicht mehr dran war. 1993 gewann Toni Morrison, und diese lange Preis-Absenz ist ein Witz angesichts dessen, dass keine andere Literatur weltweit so viel gelesen wird wie die amerikanische. Thomas Pynchon, Don DeLillo oder Philip Roth warten noch viel länger auf diesen Preis, den jeder von ihnen mehr als verdient hätte, und mit Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides gäbe es auch junge Kandidaten. Aber das Populäre ist auch nicht die Sache der Akademie.
Die beste Wahl wäre eine Algerierin
Deshalb sind ihre Entscheidungen so schwer vorherzusagen, wenn auch die Buchmacher in den letzten Jahren immer den späteren Gewinner in ihrer Spitzengruppe hatten. Völlige Überraschungen wie Gao Xingjian (2000) oder Dario Fo (1997) sind lange her. Dennoch darf man träumen: von Afrika etwa, das auch endlich mal wieder dran wäre, wenn denn Proporz überhaupt eine Rolle spielen soll.
Nicht nur der wunderbare Ngugi wa Thiongh’o aus Kenia käme da in Frage, sondern mehr noch die Algerierin Assia Djebar, die eine herausragende Stimme im Arabischen Frühling war – und eine große Schriftstellerin ist. Gemeinsam mit dem Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch würde ihre Wahl eine große Woche für die engagierte Literatur krönen. Oder wird die Weißrussin doch die erste Doppelkönigin der Literatur? Um 13 Uhr wissen wir mehr.