Literatur-Spezial der F.A.S. : Der Stoff, der niemals ausgeht
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Es ist wieder Frankfurter Buchmesse! Im vergangenen Herbst fand sie digital statt, in dieser Woche öffnet sie wieder ihre Hallen fürs Publikum. Dazwischen liegt ein Jahr dramatischer Naturereignisse, Konflikte und Debatten. Das aktuellste Thema von allen ist zugleich ein uraltes Motiv der Weltliteratur: Wetter.
Es folgt ein kleiner Überblick über die Titel literarischer Neuerscheinungen der Saison: „Pflaumenregen“. „Gewittertiere“. „Hitze“. „Nachrichten aus dem Nebel“. „Like Snow we fall“. „Inneres Wetter“. „Den Sturm ernten“. „Sweetheart, es ist alle Tage Sturm“. „Mein Sternzeichen ist der Regenbogen“. „Mond des verharschten Schnees“. „Im Winter Schnee, nachts Sterne“. Überhaupt, wo man hinschaut, ist Himmel, ob es der „Himmel vor hundert Jahren“ ist oder der englische: „Heaven“. Und dann gleich noch ein anderer englischer: „Big Sky Country“. Dazu kommen dann die Jahreszeiten: „Sommer“, „In diesen Sommern“, „Winter“, auch in Kombination mit Tieren, sicher ist sicher im Buchmarkt: „Mein Lieblingstier heißt Winter“.
Da kann die Literaturkritik noch so in Sorge sein, dass der Literatur das Erhabene verloren geht vor lauter Identität, Diskurs und Repräsentation: Auf das Wetter und seine unergründliche Bedeutung für die menschliche Seele ist offenbar Verlass, wenn es ums Dichten und Schreiben geht.
Auch der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen hat den Auftakt seiner neuen Romantrilogie über die Familie Hildebrandt, „Crossroads“, jetzt mit einem detaillierten Wetterbericht begonnen: „Der von kahlen Eichen und Ulmen durchbrochene Himmel, an dem zwei Frontensysteme die grauen Köpfe zusammensteckten, um New Prospect weiße Weihnachten zu bescheren, war voll feuchter Verheißung, als Russ Hildebrandt wie jeden Morgen in seinem Plymouth-Fury-Kombi zu den Bettlägerigen und Senilen der Gemeinde fuhr.“
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Egal, ob es regnet oder schneit: Schon seit Jahrhunderten erscheinen Wetterberichte als Prognosen oder Diagnosen innerer Stimmungslagen erfundener Figuren. In allen Sprachen der Weltliteratur. Und es hört nicht auf, und der Redebedarf wird immer nur größer: Die katastrophalen Regenfälle des Sommers 2021 – ob ganz nah, im Ahrtal, oder weit weg, in Manhattan – haben die Debatten um extreme Wetterlagen, den Klimawandel und darüber, was gegen das eine und das andere zu tun ist, noch einmal dramatisch verstärkt.
Wetter ist seit Ewigkeiten ein Thema der Literatur, der Klimawandel wird es erst jetzt. Langsam, aber sicher. Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann hat dafür im Frühjahr ein prominentes Beispiel geliefert: Ihr Roman „Daheim“ erzählt von Menschen in einer vertrocknenden Welt. Und auf die Shortlist des diesjährigen Buchpreises hat es jetzt immerhin „Eurotrash“ von Christian Kracht geschafft und damit der berühmteste Regenmantel der Literaturgeschichte: die Barbourjacke aus „Faserland“.
Niedrigschwellig. Angsteinflößend. Herrlich
Wetter, das ist der Stoff, der niemals ausgeht, nicht nur für die Kunst, auch für den Frühstückstisch, die Supermarktkasse, für den Bus, das Gespräch über den Zaun. Manchen scheint, als sei das in den Tagen des Lockdowns noch stärker geworden. Wenn wir über Wetter reden, heute, im Jahr 2021, schöpfen wir immer aus dieser reichhaltigen Quelle menschlicher Kommunikation: Wetter, das ist niedrigschwellig, immer wieder neu, erstaunlich, angsteinflößend, herrlich.
Aber wir reden heute zugleich über den physischen Ausdruck des weitaus komplexeren Phänomens des Klimawandels. Die Flutkatastrophen dieses Sommers, die Dürren und Waldbrände hierzulande und im Rest der Welt sind zutiefst beunruhigend, die Fragen, wie sie entstehen, wie man ihnen vorbeugt oder sie verhindert, stellen sich weiterhin. Das Gefühl drohender Veränderungen nimmt zu, dabei sind diese Veränderungen längst im Gange. Oder sogar abgeschlossen. In Kalifornien ist die Dürre längst neue Normalität, sie erfinden dort neue Namen für Waldbrände.
Und wo es um ungewisse Lagen und Vorhersagen der Zukunft geht, um die menschliche Rolle innerhalb größerer Zusammenhänge, die schwer durchschaubar scheinen, da schlägt die Stunde der Literatur. Für die Extraausgabe zur Frankfurter Buchmesse hat das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung deswegen Autorinnen und Autoren aus aller Welt gebeten, vom Wetter zu erzählen.
Beiträge von John Green bis Luisa Neubauer
Jenny Offill erklärt, was Romane gegen den Klimawandel tun können, und der Weltumsegler Boris Herrmann, wie man auf dem Meer Wolken liest. Für John Green bezeugen Klimaanlagen nur die Herrschaft weißer Anzugträger über die Bürotemperatur. Und für Mordecai Ogada ist das Wetter der große Gleichmacher der nördlichen und südlichen Welt. Marcel Beyer schaut Schnee im norwegischen Fernsehen. Und Hervé Le Tellier liest im Sturm. Ronya Othmann erzählt vom Dichten in Zeiten menschengemachter Naturkatastrophen. Und Michael Gamper davon, was die Literatur vom Wetter weiß, das die Meteorologie nicht erfassen kann. Luisa Neubauer hat den Einsatz für die Umwelt von ihrer Großmutter gelernt. Und Nicola Kabel erkennt den Stoff für Generationenkonflikte darin.
Nava Ebrahimi geht im griechischen Regen verloren. Und Paolo Cognetti fürchtet die Einsamkeit der nebligen Alpen. Was der steigende Meeresspiegel für die Nordseeküste bedeuten wird, hat Rutger Bregman erforscht. Peter Licht beschimpft Funktionsjacken. Und am Ende schaut Jochen Schmidt noch mal historische Wetterberichte der DDR.
Aber eigentlich richtet sich, wenn es um Wetter geht, der Blick immer nach vorn. „Jeden Abend, bevor ich schlafen gehe, schaue ich auf den Wetterbericht“, schreibt Katharina Volckmer. „Ein Blick in die Zukunft, kleine Zahlen und Symbole, die mir versprechen, dass es einen neuen Tag geben wird. Eine weitere Woche. Manchmal sogar zwei. Es ist eine etwas banale, aber wichtige Quelle der Gewissheit: Es wird ein Morgen geben.“