
Literatur aus Finnland : Wer die Wahrheit sagt, ist betrogen
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Es macht den enormen Reiz von Itkonens Roman aus, dass auch nach der Synthese dieser Positionen gefragt wird. Esa findet sie schließlich für sich, indem er für seine eigene Tochter zum Autor der Familiengeschichte wird.
„In Finnland“, schreibt der moderne Klassiker Henrik Tikkanen 1975 in seinem autobiographischen Roman „Brändovägen 8 Brändo. Tel. 35“, der jetzt auf Deutsch erscheint, „ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind.“ Tatsächlich ist die Geschichte des finnischen Nationalstaats jung. Bis 1809 gehörte Finnland zu Schweden, daher rührt die jahrhundertelange Dominanz des Schwedischen als Sprache der Oberschicht und des kulturellen Austauschs - bis heute gibt es eine reiche finnlandschwedische Literatur, deren prominenteste Vertreterin die vor hundert Jahren geborene „Mumin“-Autorin Tove Jansson war. Nach 1809 fiel das Land als Großfürstentum an Russland, und die Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins im neunzehnten Jahrhundert geht einher mit der Publikation des „Kalevala“, eines aus mündlich tradierten Versen geschaffenen Epos, das auch im Ausland als Monument einer versunkenen finnischen Kultur gelesen wurde.
Der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes
Auch dieses Werk feiert die Erinnerung: Wer die Welt beherrschen will, so seine Botschaft, muss den Ursprung der Dinge kennen - Wasser, Eisen, Feuer, Himmel und Erde -, dann kann er sie mit einem Spruch für seine Zwecke einsetzen. Und es ist der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes, der im „Kalevala“ auf jeder Seite aufscheint, der das Werk als Fanal des Aufbruchs seiner Sprache erscheinen lässt.
Das „Kalevala“ erschien 1835 in seiner ersten Fassung. Es dauerte aber bis 1870, ehe der erste finnisch geschriebene Roman erschien: „Sieben Brüder“ von Aleksis Kivi, stilistisch zwischen auktorialer Erzählung und reiner Dialogform gehalten. Sein Schauplatz ist die Wildnis, die es zu erobern gilt, und auch in der Folge sind viele in der Stadt gelesene finnische Romane auf dem Land angesiedelt, etwa Werke von Juhani Aho oder Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Roman „Frommes Elend“ von 1919, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, hebt sich dabei deutlich ab von all den europäischen Bauernromanen jener Zeit, indem er seinen Helden in ein ländliches Leben hineinstößt, dem alle Romantik fehlt, in dem die Armut, der Hunger und die Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist.
Noch immer spielt das Land mit seinen Sommerhäusern, den Wäldern, Inseln und Seen als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort eine gehörige Rolle in der finnischen Gegenwartsliteratur, etwa in der Novelle „Der Mond flieht“ des 1954 geborenen Künstlers Rax Rinnekangas. Es ist ein Erinnerungsbuch an einen Sommer in Finnlands Norden, seit jeher eine Region, die mit Magie assoziiert wird, und der Erzähler berichtet von seiner Liebe zu seiner Cousine Sonja, vom jähen Tod des Mädchens und davon, wie alte Verwerfungen zwischen den Familienmitgliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingenommen werden, ohne dass irgendjemand eine Klärung versucht. Deshalb sieht Lauri, der Erzähler, der damals dreizehn Jahre alt war, in der Rückschau den Moment, in dem er den Unterschied zwischen Glauben und Wissen für sich entdeckte, als den Beginn seines erwachsenen Lebens an. Es ist der Moment, in dem er sich der Formbarkeit von Erinnerung bewusst wird.