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Ursula von Arx: Ein gutes Leben : Die Befreiung aus dem Phantomleben

Bild: Archiv

Diese Geschichten wollen nichts belegen oder widerlegen: Ursula von Arx trifft zwanzig Menschen, die unglücklich wurden. Und wieder glücklich. Sie destilliert daraus kein Konzept gelingenden Lebens. Darin liegt ihre Stärke.

          6 Min.

          Lilo Weber ist überzeugt, dass man im Rückblick nie Mut bereut, sondern nur fehlenden Mut. Wenn das eine Faustregel sein sollte, mit der man in Entscheidungssituationen weiterkommt, dann hätte der Leser des fabelhaften Buches von Ursula von Arx schon viel gewonnen. Aber das ist nicht die Sorte Gewinn, die sich bei dieser Lektüre erwarten lässt. Die Tanzkritikerin Lilo Weber, mit der die Autorin wie mit neunzehn anderen Leuten ein Gespräch über Glück und Unglück geführt hat, gibt keine allgemeinen Ratschläge, sondern erzählt aus ihrem Leben. „Allgemeine Rezepte haben alle den einen Fehler: Das Leben will sich ihnen nicht recht anpassen“, schreibt Ursula von Arx.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

          Ihr ist ein Buch gelungen, das mit großer Leichtigkeit nach dem fragt, was einer Biographie Bedeutung gibt, und damit rechnet, hundert verschiedene Antworten zu erhalten, oder sagen wir gleich: so viele Antworten, wie es Biographien gibt. Dass man die hier beschriebenen Kurzbiographien - jede von ihnen wird auf kaum mehr als zehn Seiten ausgebreitet - gerne hintereinander wegliest, hat nicht nur damit zu tun, dass sie gut erzählt sind. Man fühlt sich auch angezogen von der erstaunlich psychologiefreien Art, mit der die Befragten über existentielle Situationen Auskunft geben und dabei Kriterien ihrer Lebensführung preisgeben, über die sich manche von ihnen möglicherweise auch erst im Gespräch mit Ursula von Arx klargeworden sein mögen.

          Es sind Kriterien, die eher nebenbei aufleuchten als ausdrücklich zur Sprache kommen. Paradoxes kommt zutage: Man verdankt doch alles den Einschränkungen, die man erfährt. Der Grafiker Florian Bauer sehnt sich nach solchen Einschränkungen, wenn er sagt: „Ich mache einfach immer alles allein. Es gibt niemanden, der von außen Dinge in mein Leben trägt und mir etwas abverlangt.“

          Anstoß von außen

          Das gute Leben, von dem das Buch handelt, ist mehr außen- als innengeleitet. Auch wenn Bauer einen Großteil des Tages damit verbringt, seinen Befürchtungen und Hoffnungen nachzugehen, so zeigt gerade sein Beispiel, wie unerheblich die Introspektion ist. Sobald etwas geschieht, ordnet sich das Feld der Befürchtungen und Hoffnungen neu und nicht selten ganz anders. Das Innenleben erweist sich als abhängige Variable dessen, was „von außen“ zustößt. Es ist der Wahlbetrug aller Selbstbestimmungsjünger, dass sie sich aus eigener Herrlichkeit zur Wahl ermächtigt fühlen, während die Entscheidung in Wirklichkeit doch durch die Umstände weitgehend vorbereitet ist. Umgekehrt legte es der chronisch entscheidungsscheue Heinrich von Kleist immer wieder darauf an, sich derart in alternativlose Situationen zu manövrieren, dass er scheinbar die Umstände für ihn entscheiden ließ. Ursula von Arx zieht daraus die Konsequenz: Wer sich als souveräner Selbstbestimmer wähnt, sitzt auf die eine oder andere Art einer vorgestellten körperlosen Wirklichkeit auf, innerhalb deren er so lange seine Erwägungen anstellt, bis der Realitätstest ihn eines Besseren belehrt.

          Die Autorin veranschaulicht die Tücken der falschen Antizipation mit dem Versuch Florian Bauers, einen Lebenspartner über das Internet zu finden. „Vor allem hatte er regen Mailverkehr. Er mag es, eine Frau zuerst schreibend kennenzulernen: ,Im Internet', sagt er, ,sind die Bedingungen körperlos.' Es gibt keine Stimme, die beeinflusst, keine Gestik. Keine Vergangenheit, die sich ins Gesicht eingeschrieben hätte. Selbst wenn man Bilder ausgetauscht hat, was Bauer immer relativ schnell tut - die gehen vergessen, sagt er. Man sei ganz Sprache. ,Das hat etwas Schönes', sagt Bauer. ,Aber es hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun.'“

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