Mario Vargas Llosa : Lob des Lügners
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Generös: Mario Vargas Llosa Bild: picture alliance / dpa
Vargas Llosas Vielfältigkeit sprengt jede Übersicht und Beschreibung. Von unerträglicher Brutalität bis hin zum Kannibalismus als Schlusspointe - sein Detailreichtum überfordert jeden zartbesaiteten Leser.
Literatur, sagte er einmal im Gespräch, sei nicht für die Wahrheit da, ihre Aufgabe sei das Lügen. Man sollte sich vom Anschein des eleganten Gentleman alter Schule, als der er einem gerne gegenübertritt, nicht täuschen lassen: Inhaltlich und formal ist Mario Vargas Llosa einer der kompromisslosesten Romanciers nicht nur unserer Zeit. Die vielfältigen Spielarten der physischen Gewalt waren ihm immer ein Hauptthema: von der unerträglichen Brutalität seines Schulromans „Die Stadt und die Hunde“ über die schier infernalischen Bürgerkriegszenen in „Der Krieg am Ende der Welt“ bis hin zu dem sich als schockierende Schlusspointe enthüllenden Kannibalismus in „Tod in den Anden“ oder den Folterszenen im „Fest des Ziegenbocks“, deren Detailreichtum jeden zartbesaiteten Leser überfordern wird. Wie ist es möglich, dass derselbe Mann mit „Tante Julia und der Kunstschreiber“ einen der lustigsten Romane aller Zeiten zustande brachte, ein Werk von derart hellem Witz und formalem Einfallsreichtum, zugleich eine Parodie auf die Trivialliteratur und aufs Schriftstellerdasein überhaupt?
Vargas Llosas Vielfältigkeit sprengt jede Übersicht und Beschreibung. „Gespräch in der ,Kathedrale'“, ein Werk von solcher Komplexität, dass es das Experiment bis an die Grenzen der Lesbarkeit treibt: Sprünge zwischen Zeiten, Figuren und Handlungsebenen in fast jedem Absatz, oft mitten im Satz, ein Buch, das mehr entschlüsselt als genossen werden muss - und das einen doch verblüfft und dankbar zurücklässt: niemand wird danach mehr behaupten, die Wirklichkeit sei zu kompliziert, um sich in einen Roman bannen zu lassen. Oder „Maytas Geschichte“, die Biographie eines vergessenen Revolutionärs, zugleich eine Romanabhandlung darüber, dass das Biographieschreiben unmöglich ist, bis im letzten Kapitel Vargas Llosa und sein Objekt, der ehemalige Guerrilla Mayta, jetzt Eisverkäufer am Strand Limas, einander ratlos gegenüberstehen und alles in Wahrheit ganz anders war, als wir gerade gelesen haben.
Eines der hilfreichsten unakademischen Werke
Nebenbei bemerkt, er ist einer der generösesten Schriftsteller überhaupt. Drei Jahre seines Lebens widmete er einer Studie über das Werk seines Antipoden und damaligen Freundes García Márquez; er veröffentlichte erst vor kurzem ein Buch über Juan Carlos Onetti, er rezensiert seit langem schon die internationale Neuerscheinungen und verfasste mit „Briefe an einen jungen Schriftsteller“ eines der hilfreichsten unakademischen Werke über die Kunst des Erzählens. Dass er sich außerdem in die Politik einmischte und leider (zum Schaden seines Landes, nicht der Leser) erfolglos versuchte, Präsident Perus zu werden, sollte angesichts seiner literarischen Leistungen bloß eine Fußnote sein und hat vor allem noch deshalb Bedeutung, weil wir diesem Umstand mit „Der Fisch im Wasser“ eines der klügsten und witzigsten Bücher über den alltäglichen Wahnsinn lateinamerikanischer Politik verdanken. Eine bessere Wahl wäre nicht möglich gewesen. Nächstes Jahr noch Philip Roth, und man könnte wieder anfangen, an die Gerechtigkeit zu glauben.