Roberto Bolaño: 2666 : Vier Kritiker und ein Höllenfall
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Dieser Autor beweist, dass die Möglichkeiten erzählerischer Experimente noch längst nicht ausgeschöpft sind: Roberto Bolaños kühner, wilder, großartiger Roman „2666“.
Vier Literaturwissenschaftler, spezialisiert auf den rätselhaften deutschen Romancier Benno von Archimboldi, treffen sich im verregneten Deutschland und dann in diversen europäischen Städten auf tristen Kongressen. Bald entsteht ein Geflecht von Beziehungen: Zwei von ihnen, ein Italiener und ein Franzose, verlieben sich in ihre englische Kollegin Liz Norton, die mit beiden eine Affäre beginnt. Alle sind sie zurückhaltende, komplizierte und hochkultivierte Menschen, die ihre Konflikte in langen Gesprächen zu bereinigen versuchen; unterdessen steigt Benno von Archimboldi vom Geheimtipp zum weithin gelesenen, schließlich sogar nobelpreisverdächtigen Autor auf - und bleibt doch unauffindbar; niemand hat ihn gesehen, keiner weiß etwas über seinen Verbleib. Nur ein Gerücht gibt es: Archimboldi soll in der mexikanisch-amerikanischen Grenzstadt Santa Teresa gesehen worden sein.
Kurz entschlossen brechen die Philologen auf - und bald schon werden sie von schrecklichen Träumen und Vorahnungen gequält, etwas Schlimmes scheint im Anzug. Die drohende Atmosphäre verdichtet sich, sobald sie in Santa Teresa angekommen sind, wo sich gerade eine Serie brutaler Frauenmorde ereignet. An diesem Punkt bricht ihre Geschichte ab, und der erste von fünf Abschnitten, „Der Teil der Kritiker“, in Roberto Bolaños unvollendetem Großprojekt „2666“, selbst so lang wie ein vollständiger Roman, findet sein abruptes Ende.
Schlaflose Nächte mit dem toten Vater
Der zweite Abschnitt, „Der Teil von Amalfitano“, erzählt von einem Universitätsprofessor, dem örtlichen Kontaktmann der vier Germanisten, den einerseits die Angst um seine Tochter Rosa, andererseits die Gespräche mit einer nächtlichen Geisterstimme, die vermutlich seinem toten Vater gehört, allmählich um den Verstand bringen. Ebenjene Tochter Rosa ist eine Hauptfigur des dritten Teils, „Der Teil von Fate“, in dem der nordamerikanische Journalist Oscar Fate aus seiner Heimat New York nach Santa Teresa geschickt wird, um einen Artikel über die immer mehr ausufernde Serie der Morde zu schreiben. Fate und Rosa werden ein Paar, verzweifelt bittet Amalfitano den Journalisten, seine Tochter mit in die Vereinigten Staaten zu nehmen, um sie vor dem Schicksal zu bewahren, ein weiteres Verbrechensopfer zu werden.
Allmählich klärt sich das Netz der Anspielungen, Bezüge und Spiegelbilder, und man begreift, dass die Stadt Santa Teresa nichts anderes ist als das Zentrum des Bösen, als eine Hölle, der keiner, der sie einmal betreten hat, heil an Körper und Seele wieder entkommt. Nun stürzt der Roman sich direkt ins Herz der Finsternis. Auf fast vierhundert Seiten erzählt „Der Teil von den Verbrechen“ im kühlen Reportageton von einem Gewaltdelikt nach dem anderen. Die subtilen Verwicklungen zwischen den Literaturwissenschaftlern scheinen ebenso fern wie die Nöte des schlaflosen Amalfitano. Wer es durch diesen schier endlosen, brutalen und grandios geschriebenen Albtraum geschafft hat, gelangt zum „Teil von Archimboldi“, in dem wir in einem langen Rückblick erfahren, dass dieser mit eigentlichem Namen Hans Reiter heißt, wir lernen ihn als jungen Mann und Wehrmachtsoldaten kennen und folgen ihm, bis er sich schließlich nach Mexiko aufmacht, wo sein Neffe, den wir bereits im vorigen Teil kennengelernt haben, als Hauptverdächtiger der Frauenmorde verhaftet worden ist. Und so endet ein uferloser, ein schlechthin ungeheuerlicher Roman.
Charles Bukowski, Raymond Chandler, David Lynch
Wie sehr dieses Werk noch Fragment ist und was der 2003 verstorbene Autor daran geändert hätte, hätte er lange genug gelebt, um ihn selbst für die Publikation vorzubereiten, darüber kann man nur spekulieren; man muss sich wohl damit bescheiden, das Buch, das uns vorliegt, so zu lesen, als wäre es ebenso abgeschlossen wie Roberto Bolaños anderer Großroman, „Die wilden Detektive“, publiziert im Jahr 1998.
Tatsächlich kann man „2666“ am besten verstehen, wenn man es mit dem früheren Roman vergleicht. Auch dort ging es um eine rätselhafte Autorengestalt, auch sein ausufernd langer Mittelteil bestand aus aneinandergereihten Erzählpassagen in vielen Dutzend Stimmen und Stilen. Bolaño kann man wie wenigen anderen zuschreiben, was Hannah Arendt am Beispiel von Auden und Brecht „die für die Spätgekommenen charakteristische Facilität in der Beherrschung aller poetischen Spielarten“ nannte: Er konnte alles, er traf jeden Stil mit traumwandlerischer Leichtigkeit, und das für ihn Typische ist eben, dass es keinen typischen Bolaño-Ton gibt. Ebenso charakteristisch ist der Mut dieses Autors zur formalen Offenheit. Bei ihm bleiben die lang erwarteten Begegnungen stets aus, die wohlgeschürzten Knoten werden nicht aufgelöst, die klug ausgelegten Spuren führen ins Nichts. Vielleicht hat noch nie ein Schriftsteller solch eine Beherrschung der Erzählkonventionen mit einer solchen Gleichgültigkeit gegen ebendiese Konventionen verbunden.