Feridun Zaimoglu: Hinterland : Geschichten, die richtig reinziehen
- -Aktualisiert am
Bild: Verlag
Hinter den sieben Bergen bei den vielen Bewusstseinsschnipseln: Feridun Zaimoglu erzählt in seinem Epos der Sehnsucht von den mittleren Rändern der Gegenwart.
So konventionell „sozialkritisch“ - und zwar in einer besonderen neu-deutschen Weise - setzt dieses Buch ein, dass der gewiefte Leser gleich Ironie- oder gar Parodie-Verdacht schöpft. Eine Frau, die zu viele Jahre hinter sich hat, um noch mit der Frische ihres Körpers, ihrer Gesten und Worte die Blicke und Begierden auf sich zu lenken, und die damit allzu gut leben gelernt hat, wird von ihrem Mann verlassen, einem halbprominenten Programmdirektor beim Rundfunk, der sich als Liebhaber einer viel Jüngeren etwas lächerlich macht. Resigniert zieht die Dame Vlasta in das sprichwörtliche „Haus am Waldrand“ und breitet sich in einer durchaus organischen Lebensform aus: in Wollsocken, auf Gemüsebeeten und mit eher wenig Seife morgens und abends. So weit, so konventionell.
Wenn sie dann einen Taxifahrer einlädt, bei ihr am Waldrand zu übernachten, passt das vielleicht gerade noch ins Bild und zu der gutgemeinten Erwartung, daraus könnte etwas werden - doch zu weit geht es anscheinend, wenn sie mit Wichtelmännlein und Wichtelweiblein zu reden beginnt, ohne dass der Erzähler klarmacht, ob er sich gerade an einem ebenso angestrengten wie anstrengenden Literatur-Experiment abarbeitet oder nahegelegt werden soll, die Dame Vlasta sei ins bunte Abseits der Psychopathologie übergetreten.
Die Wichtel verschwinden
Gegen Ende des ersten der sieben langen Kapitel von „Hinterland“, Feridun Zaimoglus neuem Roman, ist man erst mal bereit, entlang solcher Perspektiven weiterzulesen, um sich bald in einer Geschichte zu Hause fühlen zu können. Aber dann kommt es anders. Das für dieses Buch, wie sich herausstellt, dominante Prinzip der erzählerischen Metonymie kommt ins Spiel, das heißt: Von der Dame Vlasta, ihrem Taxifahrer und den Wichteln wird kaum mehr die Rede sein (gegen Ende des Buchs und in einem Postskriptum tauchen sie noch einmal auf, und dort sieht es eher so aus, als ob die Sache mit den Wichteln der Protagonistin anzulasten sei), während die Aufmerksamkeit auf Personen gelenkt wird, die mit Vlasta nur am Rande zu tun haben: auf einen eher anspruchsvollen als erfolgreichen tschechischen Komponisten und dessen Geliebte, vor allem aber auf seine Tochter, die schöne Aneschka, und auf ihren Liebhaber, einen „dunkeläugigen Deutschen“. Der dunkeläugige Deutsche mit dem Namen Ferda ist Schuhmacher und Intellektueller dazu, wird immer wieder „in Geschichten hineingezogen“ und hat türkische Eltern, so dass der Leser gar nicht umhinkann, ihn mit dem Autor zu assoziieren, zumal er oft in der ersten Person Singular auftaucht.
Wenn es so etwas wie eine zentrale Achse in diesem Buch gäbe, auf der viele Details und Exkurse zusammenliefen, dann müsste es das zarte und nicht sehr dramatische Auf und Ab der Liebe von Aneschka und Ferda sein. Doch sosehr ein Leser eben darauf setzen und bis zum Ende hoffen mag, eine zentrale Geschichte gibt „Hinterland“ nicht her. Genau wie die Dame Vlasta, ihr Taxifahrer und die Wichtelwesen tauchen immer neue Gruppen von Gestalten auf und verschwinden bald, um dann nur noch marginal oder auch überhaupt nicht wiederzukehren. Die Zahl der Personen, der Namen, der Pronomina und der Perspektiven wächst beständig über die fast vierhundertfünfzig Seiten bis zum Ende, ohne dass sie je in einer „überraschenden Wendung“ oder einem „Tableau“ zusammengebracht würden, wo alle ihren Ort und ihre Funktion fänden. Was dominiert, ist die fortgesetzte metonymische Bewegung: Von Prag geht sie nach Istanbul und Ankara, von Istanbul auf die Insel Föhr, von dort zu den ungarischen Zigeunern, nach Budapest und an den Plattensee (ein besonders witziges Kapitel); danach findet man sich in Krakau wieder, und wie alle Wege im neuen Deutschland führt auch dieser Roman am Ende nach Berlin.