Brief aus Istanbul : Stiefkinder der türkischen Demokratie
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Wahlkampf aus dem Gefängnis: Selahattin Demirtas von der pro-kurdischen Partei HDP wirbt auf einem Plakat neben dem des Amtsinhabers Erdogan um Stimmen bei der Präsidentenwahl im Juni 2018. Bild: Picture-Alliance
Speziell vor den Präsidentenwahlen 2023 soll die Macht der Kurden an den Urnen geschwächt werden: Warum Erdogan im Konflikt mit geschätzt knapp einem Fünftel der türkischen Bevölkerung nationalistische Töne anschlägt.
Die Kurden, mit denen wir seit Jahrhunderten in Anatolien zusammenleben, haben sich im Laufe der Geschichte aus verschiedenen Gründen immer wieder gegen die von Türken dominierte Autorität aufgelehnt. Am 15. August 1984 startete die PKK den neunundzwanzigsten kurdischen Aufstand. Unter Führung von Abdullah Öcalan begründete die Organisation ihren bewaffneten Kampf, bei dem sie immer wieder auch zu terroristischen Mitteln greift, mit der Forderung nach Anerkennung der kurdischen Identität. Auf bewaffnete Aktionen der PKK reagierte der Staat mit Härte. Der Konflikt hat bisher rund 40.000 Menschen das Leben gekostet.
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Der von Öcalan eingeleitete neunundzwanzigste Aufstand zeitigte einige symbolische Folgen. Heute leben wir nicht mehr in einem Land, in dem die kurdische Sprache radikal verboten ist. Das Bekenntnis „Ich bin Kurde“ ist kein Grund mehr für Verhaftung. Die Glasdecke dräut aber nach wie vor über uns. In den Regionen mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit dürfen keine zweisprachigen Schilder aufgehängt werden. Der Polizei sind Kurden noch immer automatisch verdächtig. Kurz, auch der jüngste Aufstand hat zu nicht viel anderem als Blut, Gewalt und Tränen geführt. Alle Initiativen, die kurdische Sache auf friedlichen Wegen zu lösen, gerieten ins Stottern. So wurden etwa 1990 ins Parlament gewählte kurdische Abgeordnete nach einer Sitzung eingesperrt. Später brach Erdogan den in den 2000er Jahren eigenhändig eingeleiteten Friedensprozess über Nacht ab, um die Stimmen der türkischen Nationalisten nicht zu verlieren.
Trotz der Gewaltspirale verstärkte die kurdische Bewegung ihre Präsenz in der Politik. Parteien, die sich der kurdischen Sache annahmen, wurden zwar der Reihe nach verboten, hörten aber nicht auf, die Politik zu fordern. Ein Teil der kurdischen Politiker distanzierte sich dabei nicht wirklich von Terror und Gewalt der PKK. In letzter Zeit waren aber die demokratischen und friedlichen Stimmen deutlich lauter. Statt Gewalt zu verherrlichen, stellten sie sich offen gegen Erdogan. Auch das mussten sie zum Teil teuer bezahlen. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, zahlte den Preis dafür seit drei Jahren im Gefängnis.
Statt zu verhandeln, wählte die AKP den Weg, die Kurden mit repressiven Methoden zu marginalisieren und an die Seite der Befürworter des bewaffneten Kampfes zu stellen. Doch auch angesichts dieser Manöver steckten die kurdischen Politiker nicht auf. Vor allem in den letzten fünf, sechs Jahren bekamen sie eine linksgerichtete politische Ader zu fassen. Sie übersprangen die Zehnprozenthürde und zogen mit starker Repräsentanz ins Parlament ein. Bei den jüngsten Kommunalwahlen unterstützten sie die Anti-AKP-Allianz von außen und sorgten mit dafür, dass die AKP verlor.