Brief aus Istanbul : Sie plündern den Staat aus
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Nicht nur der Fußball verbindet sie: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Begleitung von Yildirim Demirören (r.) im Juni 2018 im Museum der Republik in Ankara. Bild: Picture Alliance / Turkish Presidency / Murat Cetinmuhurdar
Die Pandora Papers zeigen, was wir wissen: In der Türkei füllen sich Erdoğan-treue Bosse die Taschen und schaffen ihr Geld in Steueroasen. Wie lange geht das noch?
Der ehemalige Präsident Süleyman Demirel, eine der Symbolgestalten der rechten Mitte, war nicht nur für seinen politischen Verstand bekannt, sondern auch für seine prägnanten Sprüche. Als in der Zeit vor dem Militärputsch von 1980 rechtsextreme Gruppen Blut vergossen, kam von ihm: „Ihr bringt mich nicht dazu zu sagen, dass Rechte Straftaten begehen.“ Und nach Morden, hinter denen islamistische Organisationen steckten, stellte er sich schützend hinter die Täter: „Wie könnte der Finger am Abzug derselbe sein wie der an der Gebetskette?“ Als in der Energiekrise die Schlangen vor den Tankstellen immer länger wurden, verteidigte er sich: „War da irgendwo Benzin, und wir haben es geschluckt?“ Natürlich lösten die meisten solcher Statements breiten Widerspruch aus. Was Demirel unter den populistischen Spitzenpolitikern aber auszeichnete, ihn womöglich auch all die Jahre an der Macht hielt, war seine Art, sich hinter die Unter- und Mittelschicht zu stellen. Nahezu jede Rede begann er mit einer direkten Ansprache aller sozialen Kreise einzeln: „Mein Arbeiter, mein Bauer, mein Rentner.“
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Mit dem Ende seiner Amtszeit als Präsident 2000 zog Demirel sich von der politischen Bühne zurück. 2002 begann dann die AKP unter Erdoğan die Türkei zu regieren. In den Wahlen nach der Wirtschaftskrise, die die Parteien der Mitte aufgerieben hatte, waren es die am stärksten unter der Krise leidenden Milieus der Unter- und Mittelschicht, die Erdoğan an die Macht trugen. Protestwähler brachten eine erst ein Jahr zuvor gegründete Partei aus der Tradition der Nationalen Weltsicht (Milli Görüş) an die Regierung. Wie zuvor Demirel stellte sich Erdoğan an die Seite der Schichten, die ihm die Macht geschenkt hatten. Doch je stärker er wurde, umso mehr rückte er von Demirels Populismus à la „Mein Arbeiter, mein Bauer, mein Rentner“ ab. Nun hieß es für Erdoğan: „Meine Medien, mein Staat, meine Reichen.“
Die kürzlich vom Internationalen Netzwerk investigativer Journalisten ICIJ publizierten Pandora Papers haben das von Erdoğan geschaffene Wirtschaftssystem vor Augen geführt. Die Dokumente belegen, dass zahlreiche Erdoğan-nahe Unternehmer Hunderte Millionen, die sie durch Ausschreibungen, die Erdoğan ihnen zuschanzte, verdienten, dank einer Unterschrift, die Erdoğan nicht geleistet hatte, in Steuerparadiese verschoben haben. Der erste Name in den Pandora Papers war die Rönesans Holding, die Erdoğans 1000-Zimmer-Palast baute. Dank Erdoğan erhielt das Unternehmen in den letzten fünf Jahren den Zuschlag für staatliche Ausschreibungen im Wert von 1,6 Milliarden Euro; um in der Türkei keine Steuern zahlen zu müssen, transferierte es fast 190 Millionen Euro in Steueroasen. Welch ein Zufall, einen Tag nach dem Transfer wurde die Hälfte der Summe als „Spende“ an Unbekannt weiterüberwiesen.
Aus der Büchse der Pandora kam auch die Cengiz Holding zum Vorschein. Sie erhielt in der Erdoğan-Ära Ausschreibungen über rund 40 Milliarden Euro von der Regierung und wird im Bericht der Weltbank als eines von drei Unternehmen geführt, das die meisten öffentlichen Ausschreibungen weltweit gewann. Auch die Cengiz Holding transferierte ihre Millionen in Steuerparadiese. Und noch eine Firma aus dem Erdoğan-Umfeld tauchte in den Pandora Papers auf: Demirören Holding. Es stellte sich heraus, dass das Unternehmen etliche Millionen über Steueroasen nach Großbritannien gebracht und in London wertvolle Immobilien gekauft hat.
Seit fünfzehn Jahren nicht freigegeben
Diese Holding unterscheidet sich in einem heiklen Punkt von den anderen Unternehmen, die Erdoğan reich gemacht hat. Mit Krediten von mehreren hundert Millionen Euro von staatlichen Banken sorgte Erdoğan dafür, dass Demirören die größte Mediengruppe der Türkei aufkaufte. Nachdem die früher zur Doğan-Gruppe gehörenden Zeitungen und Fernsehsender von Demirören übernommen worden waren, gingen sie daran, Propaganda für Erdoğan zu machen. Der neue Inhaber der Mediengruppe zahlte bei Fälligkeit die von den staatlichen Banken erhaltenen Kredite von rund 1,7 Milliarden Euro nicht etwa zurück, sondern legte sich Luxusimmobilien in London zu.
Wie aber konnten diese Unternehmer ihr Vermögen in Steuerparadiese transferieren, ohne einen einzigen Kurusch Steuern an den türkischen Staat zu zahlen? Selbstverständlich wieder dank Erdoğan. Einem 2006 erlassenen Gesetz zufolge muss, wer Geld in Steueroasen verschiebt, 30 Prozent Steuern zahlen. Da Erdoğan aber in den 15 Jahren seither die Liste der Länder, die als Steuerparadiese gelten, nicht freigab, konnten vom Palast reich gemachte Unternehmer der Türkei atemraubende Summen entziehen.
Solche Berichte gefallen der Regierung nicht
Selbstverständlich haben diese Fakten nicht die Zeitungen der Demirören-Gruppe aufgedeckt, die von Erdoğan mit Krediten überhäuft wurde. Kein Organ der zu 95 Prozent von Erdoğan direkt oder indirekt kontrollierten Medienunternehmen hat darüber berichtet. Stattdessen waren es für die türkische Redaktion der Deutschen Welle tätige Journalisten, die zwei Jahre lang um die zwölf Millionen Unterlagen der Pandora Papers sichteten und herausfanden, welche türkischen Unternehmer Millionen Euro in Steuerparadiese geschafft haben. Die wenigen Publikationen, die nicht unter der Fuchtel des Palastes stehen, konnten aus den Veröffentlichungen von DW-Türkisch zitieren. Durch die sozialen Medien wurden die Transfers von Unternehmen, die der Palast reich machte, trotz Boykotts der Regierungsmedien Millionen Menschen bekannt.
Selbstverständlich gefallen solche Berichte der Regierung nicht. Das Propagandabüro des Palastes stellt Mitarbeitern von Medieneinrichtungen, die nicht als Propagandainstrument der Regierung fungieren, allen voran DW-Türkisch, keine Presseausweise mehr aus. Sie können nicht an offiziellen Programmen, wie dem Abschiedsbesuch von Bundeskanzlerin Merkel, teilnehmen und werden bei Recherchen auf der Straße von der Polizei behindert.
Rangeln um übrig gebliebene Essensreste
Die einzige Möglichkeit der rechtlich wie finanziell unter Druck stehenden kleineren Presseorganisationen ist es, sich Unterstützung von internationalen Einrichtungen zu holen. Doch auch das will die Regierung verhindern. Einem neuen Gesetzentwurf zufolge sollen Medien, die aus Fonds der EU oder internationaler Stiftungen Unterstützung erhalten, einen „Vertreter des Auslandszentrums“ ernennen und sich beim Innenministerium registrieren lassen. Zudem müssen sie dem Ministerium ihre gesamten Aktivitäten vorlegen. Wer sich nicht an diese Regel hält, dem drohen bis zu fünf Jahre Haft und nahezu 100.000 Euro Geldstrafe.
Auf diese Weise will der Palast auch die fünf Prozent der Presse, die er noch nicht kontrolliert, zum Schweigen bringen. Denn man weiß dort sehr genau, dass die Wahrheit wie Licht durch jede Ritze dringt. Erdoğan stellt sich aufs Podium und zeichnet ein surreales Bild, wenn er sagt: „Seht ihr nicht, wie es in Amerika und England zugeht? Da gibt es kein Benzin mehr. Schlangen in Deutschland, Schlangen in Frankreich, sie können sich nicht mehr ernähren, solche Probleme haben wir in der Türkei nicht.“ Diese Worte heben die ihm getreuen Medien in die Schlagzeilen. Das Video aber, das zeigt, wie Bedürftige nach der Kundgebung, bei der Erdoğan diese Worte sprach, darum rangeln, die von der Veranstaltung übrig gebliebenen Essensreste zu ergattern, ging nur bei unabhängigen Medien viral.
Das macht die Jugend nur noch wütender
Alles wird teurer, die Benzinpreise stiegen zwei Tage in Folge. Da titelt die regierungsnahe Presse zum Beweis, dass die Teuerung des Kraftstoffs unerheblich sei: „Trinken wir etwa Sprit?“ Die Millionen der palastnahen Unternehmer werden nicht angetastet, wohl aber die Portionen der Bewohner staatlicher Studentenheime. Eine AKP-Funktionärin verteidigte die Einschränkungen bei der Studentenverpflegung mit den Worten: „Schon unser Prophet empfahl, sich nicht den Magen vollzuschlagen.“ Trotz über 30.000 Covid-Neuinfektionen am Tag können Impfgegner Kundgebungen abhalten, Proteste gegen die Arbeitsbedingungen von Ärzten werden verboten.
All das macht die Jugend, die ja den größten Wert des Landes darstellt, nur noch wütender. Laut Umfragen träumen drei von vier jungen Leuten davon, im Ausland zu leben. Die Regierenden aber beharren darauf, dass es gar nicht so sei, wie wir denken. Arbeitsminister Vedat Bilgin: „Es ist normal, dass junge Leute solche Wünsche haben. Das darf man nicht so verstehen, dass sie sich aus der Türkei davonmachen wollten. Die Jugend will die Welt kennenlernen.“
Schauen wir einmal, wie viele der jungen Leute, denen es gelingt, ins Ausland zu gehen, dann in Erdoğans neue Türkei heimkehren, wenn sie „die Welt kennengelernt“ haben.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.