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Brief aus Istanbul : Weder Freiheit noch Brot

  • -Aktualisiert am

Eine neue Partei ist gegründet: Recep Tayyip Erdogan grüßt seine Anhänger Mitte August 2001 in Ankara. Bild: Picture-Alliance

Wie lauteten noch Erdogans Versprechungen aus dem Jahr 2001? Der türkische Präsident erteilt der Justiz vor laufenden Kameras Anweisungen, während Eltern ihren Kindern statt Babynahrung Zuckerwasser geben müssen.

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          August 2001, ein Sitzungssaal in der türkischen Hauptstadt Ankara. Den schlecht belüfteten Saal einer Gewerkschaft füllte eine Menge von hauptsächlich Männern. Sie waren euphorisch und aufgeregt. Die meisten trugen helle Sommeranzüge, sie konnten weder ihre Begeisterung noch den der Sommerhitze und der stickigen Luft geschuldeten Schweiß verbergen. Die aus islamistischen Vorgängerparteien ausgetretenen „Erneuerer“, wie sie sich nannten, hatten sich versammelt, um der Welt die Gründung ihrer neuen Partei zu verkünden.

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          Der einstimmig von den 121 Anwesenden zu ihrem ersten Vorsitzenden gewählte Mann hatte unter Applaus das Podium betreten, wo er nun die Ziele seiner Partei erläuterte. Es war Recep Tayyip Erdogan, und der Name seiner neuen Partei verwies auf „Gerechtigkeit und Entwicklung“. Zunächst zählte er die Probleme und Mängel im Land auf. Am Ende seiner Rede versprach er, die Partei werde die drei unveränderlichen Bedarfe des Landes erfüllen: „Gerechtigkeit, Freiheit und Brot.“

          Rund ein Jahr später wurde Erdogans Partei bei vorgezogenen Wahlen an die Macht gewählt. Aus rechtlichen Gründen musste Erdogan fast ein Jahr warten, dann wurde er Premierminister. Heute regiert seine Partei seit achtzehn, er persönlich seit siebzehn Jahren die Türkei. Auch wenn Erdogan Schattenboxen liebt und imaginäre Feinde schafft, gegen die er zu kämpfen angibt, gibt es keine einzige Macht mehr, die ihn daran hindern würde, die damals in jenem Gewerkschaftssaal gegebenen Versprechen zu erfüllen. Doch verteilt hat er nichts davon, vielmehr hat er inzwischen auch noch die letzten Krumen von „Gerechtigkeit, Freiheit und Brot“ getilgt.

          Nicht mehr genug für den Lebensunterhalt

          Beginnen wir beim Brot. Obwohl die Türkei laut den Statistiken von 2019 auf Rang achtzehn der weltgrößten Ökonomien steht, nimmt sie bei der Ungleichheit der Einkommensverteilung Platz zwei von 33 europäischen Ländern ein. Die Armut verschärft sich täglich. Auch wenn Erdogan kürzlich behauptete, in der Wirtschaft weise die Nadel ins Positive, zeigen die Indikatoren wie auch das tägliche Geschehen auf der Straße, dass die Nadel in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt.

          Bülent Mumay
          Bülent Mumay : Bild: privat

          Der von der Stadt Istanbul errichtete Betrieb zur Produktion preiswerten Brots für die Bevölkerung bricht sämtliche Verkaufsrekorde. Vor den Verkaufsstellen stehen Hunderte Leute Schlange, um Brot, das normalerweise zwei Lira kostet, für eine Lira zu erstehen. Mittlerweile gehen dort täglich 1.250.000 Brote über die Theken. Die Istanbuler stehen nicht grundlos um günstiges Brot an. Jüngsten Umfragen zufolge verdienen über sechzig Prozent der Bürger der Stadt nicht mehr genug Geld für den Lebensunterhalt. Obendrein befürchten 55 Prozent, dass es mit der Wirtschaft noch weiter bergab gehen wird.

          Statt Babynahrung Zuckerwasser

          Die Hoffnungslosigkeit hat ihre Gründe. Allein in diesem Jahr schlossen etwa 400.000 Betriebe. Die Regierung versucht zwar, die Zahlen zu deformieren, doch in diesem Land mit seinen gut achtzig Millionen Einwohnern gibt es zehn Millionen Arbeitslose. Und die Rate derer, die sich keine Hoffnung mehr auf einen Arbeitsplatz machen, hat sich auf 75 Prozent erhöht. Auch die Erwartungen jener, die noch auf eine Stelle hoffen, sind nicht sehr hoch. 64 Prozent der besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen jungen Leute sind bereit, eine Arbeit auch dann anzunehmen, wenn sie nur ihre Kosten für Fahrt und Essen deckt. Die Jugend träumt also vor allem davon, sich satt essen zu können.

          In den ersten neun Monaten des Jahres wurde 3,2 Millionen Bürgern Strom und Gas abgestellt, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten. Die wirtschaftlichen Probleme ließen sogar die Geburtenrate sinken. Wer selbst nicht genug zu essen hat, hört nicht länger auf Erdogans auf jeder Wahlkundgebung wiederholte Empfehlung, „mindestens drei Kinder“ in die Welt zu setzen. Als Erdogan an die Macht kam, lag die Geburtenrate bei 2,4 Kindern pro Frau, 2019 sank sie auf 1,88. Wie auch nicht? Während die offizielle Inflationsrate auf vierzehn Prozent beziffert wird, stiegen die Preise für Windeln in den letzten anderthalb Jahren um 142 Prozent! Eine mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführte Studie brachte traurige Ergebnisse zutage. Aufgrund zunehmender Armut können mittlerweile manche Familien ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken. Das trifft insbesondere Familien mit Kindern. Statt Babynahrung geben Eltern ihren Sprösslingen Zuckerwasser, als Windeln benutzen sie Tüten. All diesen Dramen zum Trotz erklärte die von Erdogan ernannte Arbeitsministerin Zümrüt Selçuk vor ein paar Tagen: „Armut, insbesondere extreme Armut, ist in der Türkei kein Problem mehr.“ Dabei schlägt die Wirtschaftskrise auch auf seine eigene Partei durch. Die AKP, die sämtliche Ressourcen im Land kontrolliert, kann die Gehälter der Angestellten in ihrer Landesorganisation nicht mehr zahlen.

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