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Brief aus Istanbul : Die Erschütterung

  • -Aktualisiert am

Überlebende des Erbebens spenden einander in der türkischen Stadt Hatay Trost. Bild: Reuters/Umit Bektas

Das Erdbeben vom Montag erschüttert die Türkei. Wir beklagen Tausende Opfer. Experten hatten vor einer solchen Katastrophe gewarnt. Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, die Hilfe zu organisieren.

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          Am 6. Februar erlebte die Türkei mit zwei Erdbeben eine der größten Katastrophen ihrer Geschichte. Die Beben von der Stärke 7,7 und 7,6 haben zehn Provinzen im Südosten des Landes getroffen, in denen rund 13 Millionen Menschen leben. Etliche Tausend Gebäude wurden zerstört. Im Augenblick, da ich Ihnen diesen Brief schreibe, beläuft sich allein in der Türkei die Zahl der geborgenen Toten auf rund 7000. Bei einem Blick auf die Luftaufnahmen der betroffenen Städte ist es leider keine Hellseherei, zu vermuten, dass die Zahl der Opfer weiter steigen wird. Das Erdbeben vom 6. Februar hat große Trauer ausgelöst und wirkt sich zudem negativ auf die ohnehin in der Krise steckende Wirtschaft des Landes aus.

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          Es ist nicht die erste Katastrophe dieser Art. Unser Land liegt auf einem Erdbebengürtel und ist von mehreren Verwerfungslinien durchzogen. 1999 gab es im Westen der Türkei ein Erdbeben der Stärke 7,4 in einer Istanbul benachbarten Industriestadt, dabei kamen laut offiziellen Angaben 17.000 Menschen ums Leben. Im Anschluss daran wurde gegen Erdbeben mobil gemacht, diverse Maßnahmen wurden ergriffen, um die Folgen eines möglichen ähnlichen Bebens abzumildern. Fortan sollte verstärkt auf die Wissenschaft gehört werden, Gesetze wurden geändert, an die man sich bei Neubauten halten sollte, überall sollten Erdbeben-Sammelplätze ausgewiesen werden, dank der Erdbebensteuer sollten wir sicherer leben können. Nach der Katastrophe vor 24 Jahren paukten uns die Experten ein: „Nicht das Beben tötet, die Gebäude töten.“ Die Beben am Montag, die stärker noch waren als das von 1999, zeigten allerdings, dass weniger die Gebäude töten als vielmehr schlechte Regierungsführung. Wie ich darauf komme? Das will ich erklären.

          Bülent Mumay
          Bülent Mumay : Bild: privat

          Seit Erdogans Regierungsantritt 2002 hat sich der Bausektor unkontrolliert zur größten Industrie des Landes gemausert. Denn der Bau neuer Häuser brachte schnelle Rendite. Die Regierenden hörten nicht auf die Wissenschaftler. Diese verkündeten laut, dass die Verwerfungslinie, die für das damalige Beben verantwortlich war, kurz vor dem Bruch stehe. Prof. Dr. Naci Görür, einer der renommiertesten türkischen Geologen, erklärte seit 2019 immer wieder, an der Verwerfungslinie im Südosten habe sich Energie aufgebaut, es könne jeden Augenblick zur Katastrophe kommen. Seinen Aktionsplan für die Abmilderung der Folgen des kommenden Erdbebens in dieser Region unterbreitete er allen möglichen staatlichen Stellen bis ganz nach oben, stieß aber überall auf Ablehnung. Erst drei Tage vor der jüngsten Katastrophe äußerte er anlässlich eines Kommentars zu einem kleineren Beben seine Besorgnis über die Verwerfungslinie, die dann Tausende das Leben kosten sollte. Doch die Regierenden wollten weder die Warnungen noch die Vorschläge Görürs hören. Ihre Indifferenz kommt uns jetzt teuer zu stehen.

          Weil die Hilfe viel zu spät kam

          Sie hörten nicht auf die Wissenschaft und fielen in sämtlichen Fächern durch, die Lehren aus dem Erdbeben von 1999 waren. Es sollte eruiert werden, welche Gebäude gefährdet sind, diese dann gesichert oder abgerissen und neu gebaut werden. Öffentliche Einrichtungen, Schulen, Krankenhäuser, Studentenwohnheime sollten gemäß der neuen Erdbebenverordnung errichtet werden. Nach dem Beben am Montag mussten wir aber erkennen, dass wir in 24 Jahren keinen Millimeter vorangekommen sind. Gebäude, die nach den neuen Richtlinien erbaut wurden, stürzten gleich Kartenhäusern ebenso ein wie solche von vor 1999. Vom Staat neu errichtete Rathäuser und Krankenhäuser stürzten ein. Von Erdogan mit stolzgeschwellter Brust eingeweihte Autobahnen rissen auf. Einer der größten Flugplätze der Region wurde zerstört. Warum? Weil man ihn entgegen den Warnungen der Experten genau auf die Verwerfungslinie gesetzt hatte. Obendrein auf dem Gebiet eines trockengelegten Sees, das zur Bebauung freigegeben worden war.

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