Brief aus Istanbul : Schau bewaffneten Salafisten zu
- -Aktualisiert am
Man kommt leicht rein in seinen Staat, aber schwer wieder heraus: der türkische Präsident Erdogan. Bild: Reuters
Egal ob Corona oder bewaffnete Salafistenvereine: Erdogan blendet die Gefahren, die der Türkei drohen, komplett aus – denn die größte Bedrohung für seine Macht bleiben Kritiker.
In türkischen Brutalo-Filmen lautet ein klischeehafter Spruch von Mafiabossen: „Rein kommt man leicht in diese Welt, aber nur schwer wieder raus.“ Dieser Satz bringt auch sehr schön die Politik auf den Punkt, welche die Türkei angesichts der Covid-19- Plage umsetzt, gegen die die ganze Welt ankämpft. Ganz gleich, in welchem Land Sie leben, in die Türkei können Sie frei einreisen. Man verlangt weder einen Covid- 19-Test noch ein Gesundheitsattest. Wollen Sie aber die Türkei verlassen, kommen Sie nicht ins Flugzeug, ohne dem Check-In-Mitarbeiter von Turkish Airlines ein Attest über einen negativen Covid-19-Test vorgelegt zu haben. Der Grund dafür ist klar: In den Ländern, in die das Flugzeug fliegt, weiß man sehr genau, wie ernst die Pandemiesituation in der Türkei aussieht. Deshalb lässt man niemanden ohne negatives Testergebnis herein. Ebenso klar ist, warum wir bei der Einreise kein Attest verlangen: Wir haben kein Geld, wir sind auf die Devisen der Touristen angewiesen. Die bittere Regel der Mafia gilt also auch bei uns: Rein kommt man leicht in die Türkei, aber nur schwer wieder raus.
Zur türkischen Fassung der Kolumne
Yazının Türkçe orijinalini okumak için tıklayın
Wie überall auf der Welt expandierte die Epidemie auch in der Türkei ab März. Im April erreichte die tägliche Infektionsrate mit 5138 Fällen ihren Höhepunkt. Doch tun wir niemandem Unrecht: Aufgrund diverser Maßnahmen der Regierung und großer Opferbereitschaft der Mitarbeiter des Gesundheitswesens gelang es, die Rate Anfang Juni auf 786 zu senken. Allerdings gab es für die Regierenden der Türkei etwas, das mehr zählte als Gesundheit: die Wirtschaft. Am 1. Juni trat Erdogan vor die Kameras und verkündete Schritte zur „Normalisierung“. Um die Wirtschaft zu beleben, die bereits vor der Pandemie in der Krise gesteckt hatte, und den in- und ausländischen Tourismus anzukurbeln, wurden quasi sämtliche Maßnahmen ausgesetzt. Ärzte warnten, zu frühe Normalisierung führe dazu, dass die Pandemie außer Kontrolle gerate. In der Regierung hatte man aber kein Ohr für solche Appelle.
Zurzeit lautet ein Vorwurf, es würden bewusst niedrige Fallzahlen veröffentlicht, damit weiter ausländische Touristen ins Land kommen. Alle Reisebeschränkungen wurden aufgehoben. Einkaufzentren öffneten ihre Pforten. Erdogan weihte die Hagia-Sophia-Moschee mit 350.000 Gästen ein und hielt in einer anatolischen Stadt ein Meeting unter Beteiligung Tausender Menschen ab. Während Ärzte flehentlich um Sozialabstand bitten, ließ er hunderttausend Parteimitglieder zu einer Feier nach Istanbul kommen. So schnellten die Fallzahlen wieder auf beinahe 2000 Infizierte pro Tag hoch. Den mit Vorbehalt zu betrachtenden offiziellen Zahlen zufolge hat die tägliche Rate der Corona-Toten die sechzig überschritten. Mittlerweile starben rund siebzig Angehörige des Gesundheitswesens. Mediziner erleben, dass ihr erbittert gegen das Virus geführter Kampf praktisch vergebens war. Vergangene Woche empörten sie sich.
Um darauf aufmerksam zu machen, dass die Infektionszahlen steigen, und um ihrer verstorbenen Kollegen zu gedenken, erklärte der türkische Ärzteverband TTB, in dem 88 Prozent der Ärzte organisiert sind, die vergangene Woche zur Protestwoche unter dem Motto „Ihr seid nicht in der Lage zu regieren, wir gehen dabei drauf“. Von Beginn der Pandemie an hatten die Ärzte die Gesundheitspolitik kritisiert und gefordert, die Zahlen transparent zu machen. Nun führten sie mit einer schwarzen Schleife am Kragen in Krankenhäusern kurze Aktionen durch. Daraufhin wurde der Verband – die landesweit größte Organisation im Gesundheitswesen –, des Verrats beschuldigt. Devlet Bahçeli, Vorsitzender von Erdogans rechtsextremem Koalitionspartner MHP, bezeichnete die Aktion mit der schwarzen Schleife als „giftiges und krankes Komplott“ und forderte das Verbot des Ärzteverbands. Bahçeli ging noch weiter und erklärte, die an der Aktion beteiligten Ärzte seien „gefährlicher als das Virus“.