Brief aus Istanbul : Frag nie, nie, nie nach 128!
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Der Staatspräsident grüßt: Recep Tayyip Erdogan am vergangenen Mittwoch in der türkischen Nationalversammlung Bild: Getty
Ein Wort, ein Vorgang: Sultan Abdulhamid II. verbot Wörter wie „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verbietet nun eine Zahl.
Das Land, in dem wir leben, hat im Laufe der Geschichte manch seltsames Verbot erlebt. So untersagte der von Erdogan sehr geschätzte osmanische Sultan Abdulhamid II. beispielsweise die Wörter „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“. Abdulhamid, der den größten Territorialverlust der osmanischen Geschichte hinnehmen musste, erlaubte auch nicht, dass in Zeitungen das Wort „Nase“ vorkam. Damit suchte er zu verhindern, dass Kritiker aufgrund seiner großen Nase auf ihn anspielten, wenn sie ihn schon nicht beim Namen nennen konnten.
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Etwa ein Jahrhundert später verbot das Militär 1982 beim Volksentscheid über die von der Junta vorgelegte Verfassung die Farbe Blau. Denn auf dem Stimmzettel sollten die Befürworter der Verfassung ihren Stempel auf das weiße Feld setzen, die Gegner auf das blaue. Nirgends wollte das Militär Blau sehen, man rief sogar die Presse an und verbat sich Blau im Layout. Ein ebenso bizarres Verbot wie das von Wörtern und Farben gab es in den Neunzigern. Da wurden Salzstreuer in Form eines Kochs mit großem Schnauzbart verboten. Dahinter steckte die These, die Salzstreuer sähen Abdullah Öcalan ähnlich, dem Chef der Terrororganisation PKK. Das skurrilste Verbot des 21. Jahrhunderts wurde dann unter dem Staatspräsidenten Erdogan erlassen: Untersagt wurde eine dreistellige Zahl.
Zur Erläuterung, warum diese Zahl mit einem Verbot belegt wurde: Mit der türkischen Wirtschaft geht es immer weiter bergab, je autoritärer Erdogan sich gebärdet. Unsere Geldbeutel leiden so arg wie unsere Demokratie. Einst war die Türkei mit ihrer jungen Bevölkerung ein funkelnder Stern in Europa, heute ist sie von Hoffnungslosigkeit gepackt. Die Arbeitslosenrate reicht bald an dreißig Prozent heran. 88 Prozent der Menschen sind der Meinung, wir stecken in einer Wirtschaftskrise. Als die AKP 2002 die Regierung übernahm, verdienten die Bürger, die nicht zu den reichen zehn Prozent gehörten, 32 Prozent des Nationaleinkommens. Heute müssen diese neunzig Prozent sich mit achtzehn Prozent des Nationaleinkommens begnügen. Die Auswirkungen sind auf der Straße zu sehen. Wenn Bauern Reste an Kartoffeln und Zwiebeln an Bedürftige verteilen, gibt es einen Ansturm. Die Leute überrennen einander.
Geld für Gefängnisse und Luxuswagen
Dass wir besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen sind, liegt ebenfalls an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In Industrieländern werden Lockdowns beschlossen. Die Bürger bekommen finanzielle Einbußen erstattet. Die Türkei kann ihre Bürger kaum unterstützen und verhängt nur Ausgangsbeschränkungen. So brechen wir traurige Rekorde: Wir sind Weltmeister beim Anstieg der Neuinfektionen. Täglich werden bei uns beinahe 60.000 Neuinfektionen und 300 Todesfälle gezählt. Trotzdem brachte das Kommunikationsministerium gerade eine Broschüre mit dem Titel „Der erfolgreiche Kampf der Türkei gegen das Coronavirus“ heraus.
Und wofür gibt Erdogan zurzeit am meisten Geld aus? Für neue Gefängnisse! Innerhalb von drei Monaten wurden 57 Millionen Euro für den Neubau von sechs Vollzugsanstalten ausgegeben. Das reicht aber nicht aus, unsere Regierung plant den Bau von 39 weiteren Gefängnissen. Das ist allerdings nicht der einzige Ausgabeposten. Vor ein paar Wochen hat der Palast drei Exemplare der Mercedes-Luxusserie S600 Guard angeschafft. Mit Steuern obendrauf kommt jedes einzelne das türkische Volk 1,8 Millionen Euro zu stehen.