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Brief aus Istanbul : Weit weg von Demokratie

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Bülent Mumay
Bülent Mumay : Bild: privat

Der Wind der Reformen wehte also mit Mafiadrohungen und der Entfernung von Personen mit eigener Meinung, selbst wenn es sich um AKP-Mitglieder handelt, da kam von Erdogan ein neuer Vorstoß. Unvermutet brachte er den EU-Kurs aufs Tapet: „Wir sehen uns nicht andernorts, sondern in Europa, wir stellen uns vor, unsere Zukunft mit Europa zu bauen.“ Sehr überraschend war das nicht. Touristen wie ausländische Investitionen kamen zum größten Teil aus dem Westen. Die Hinwendung zu Russland und China hatte in wirtschaftlicher Hinsicht keinen nennenswerten Nutzen. Der neue Vorstoß nun sollte Europa wieder betören, da sich die Wirtschaftskrise verschärft. Dabei hatte Erdogan Europa noch vor wenigen Jahren als „Kreuzritter“ verdammt. 2016 lautete sein Appell an die EU: „Wir gehen unseren Weg, geht ihr euren.“ Und 2017 schwang er Unabhängigkeitsreden: „Wir sind nicht auf Europa angewiesen, Europa ist es, das uns braucht.“ Gehen wir gar nicht so weit zurück. Erst vor ein paar Monaten verkündete er die frohe Botschaft: „Die Europäische Union ist am Ende.“ Und im letzten Monat rief er Macron und Merkel zu: „Ihr seid im wahrsten Sinne Faschisten, ihr seid im wahrsten Sinne ein Glied in der Nazi-Kette.“

Warum er sich dem als „Faschisten und Nazis“ geschmähten Europa wieder zuwendet, begründete Erdogan folgendermaßen: „Wir treten für Demokratie, Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Aufschwung nicht ein, weil das irgendjemand erzwingen würde, vielmehr setzen wir sie um, weil unser Volk ihrer würdig ist.“ Was wir nach diesem Statement erlebten, war allerdings ziemlich weit von Demokratie, der wir doch „würdig“ seien, entfernt. Erdogan bezichtigte die Oppositionsführerin CHP, ein „Problem für die nationale Sicherheit“ darzustellen, und gab damit das Signal für eine Operation. Widersachern drohte er mit erschreckenden Worten: „Abgeordneter oder Journalist zu sein wird euch nicht schützen, auch die NGO-Maske wird nicht verhindern, dass man euch zeigt, wo es langgeht.“

Natürlich hatte niemand erwartet, dass mit Erdogans Reformvorstoß kurdische Politiker, allen voran Demirtas, aus der Haft freikämen. Die Erwartung auf ein verhältnismäßig milderes Klima herrschte aber schon. Auch diese Hoffnungen hat Erdogan hinweggefegt. Er selbst hatte einst eine Friedensphase mit der PKK eingeleitet, nun sagte er vor ein paar Tagen, es gebe keine Kurdenfrage. Dabei hatte er 2005 einen mutigen Vorstoß unternommen: „Die Kurdenfrage ist keine Sache dieser Nation, sondern unser aller Sache.“ Wenn Erdogan die Kurdenfrage negiert, bleibt unsere Justiz natürlich nicht untätig. Als jüngst ein angeklagter kurdischer Journalist die Fragen des Richters in seiner Muttersprache beantwortete, wurde auf dem Gerichtsprotokoll vermerkt: „Eine unverständliche Sprache.“ Klar, wenn es keine Kurdenfrage gibt, dann gibt es auch keine kurdische Sprache.

Kein Pass schützt vor Willkür

Die Erdogan-Demokratie betrifft nicht nur Türken und Kurden. Auch als Deutscher kommt man nicht davon. Nach einem Streit mit türkischen Reisenden auf dem Flugplatz fand sich der 63 Jahre alte Kristian B., der seinen Urlaub in Antalya verbringen wollte, auf der Polizeiwache wieder. Der deutsche Zahnarzt war in Gewahrsam genommen worden, weil er gesagt hatte: „So seid ihr Türken eben, die Türkei ist ja sowieso kein demokratisches Land.“ Jetzt drohen ihm vier Jahre Haft. In sein Land zurück kann er nicht, denn gegen ihn wurde ein Ausreiseverbot verhängt.

Wollen Sie wissen, welcher „Scherz“ bei den jungen Leuten in diesem Land, wo solche Tragödien an der Tagesordnung sind, zurzeit besonders beliebt ist? Meldungen, die sie nicht kommentieren, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen, teilen sie mit dem Zusatz: „Es ist jetzt kalt in Silivri.“ Was Silivri ist? Das größte Gefängnis der Türkei, Pardon, ganz Europas, in das Erdogan alle seine Gegner sperrt.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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