Brief aus Istanbul : Der Präsident geht in seine schwierigste Kurve
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Zwei Menschen gehen fünf Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei an überdimensionalen Wahlplakaten vorbei. Bild: dpa
Erdogan lässt vor den Wahlen mal wieder nichts unversucht, um zu gewinnen. Weil er die kurdische HDP nicht unter die Zehn-Prozent-Hürde drücken kann, ruft er dieses Mal sogar zu Straftaten auf.
In der Türkei werden am kommenden Sonntag die wichtigsten Wahlen der jüngeren Geschichte abgehalten. Zwei Wahlurnen stehen dann vor uns. Erst votieren wir für den ersten Staatspräsidenten mit nahezu sultanischen Befugnissen. In die zweite Urne stecken wir unsere Stimmen für die Verteilung der Parlamentssitze. Unter normalen demokratischen Verhältnissen werden diese Wahlen natürlich nicht abgehalten. Wir wählen im Ausnahmezustand, den Erdogan, der Erfinder des Begriffs „fortgeschrittene Demokratie“, nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 verhängt hatte.
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Wir leben hier im Land einer „fortgeschrittenen Demokratie“, in der sämtliche staatlichen Ressourcen für Erdogan und seine AKP verwendet werden, einer der Oppositionskandidaten aber seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus führen muss. Die Umsturzgefahr ist gebannt, die zugehörigen Gerichtsverfahren sind praktisch abgeschlossen, dennoch setzt Erdogan das Ausnahme-Regime zu dem Zweck fort, die Opposition zu unterdrücken und das Land total zu kontrollieren, um einen absoluten Wahlsieg zu erringen.
Die Anzahl der Inhaftierten ist unterdessen um fast ein Viertel gestiegen. Im Verhältnis Gefangene pro Einwohner belegt die Türkei mittlerweile Platz zwei hinter Russland. 135 Journalisten sind in Haft, 2500 verloren ihre Jobs, hier sind wir sogar Weltmeister. Beinahe hundert Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Internetseiten wurden verboten. 5822 Wissenschaftler, 33.497 Lehrer und 114.729 Angestellte im öffentlichen Dienst wurden entlassen. Allein in den beiden Wochen vor den Wahlen wurden 1199 Nutzer sozialer Medien der Terrorismuspropaganda bezichtigt, 643 von ihnen deshalb unter Strafe gestellt.
Erdogans Abschied ist nicht unmöglich
Nun glauben Sie aber nicht, diese Bilanz des Ausnahmezustands beträfe allein „politisierte“ Kreise. Sie wirkt sich auch auf Mehmet Normalverbraucher aus, obwohl vom Palast häufig der Satz „Der Bürger hat keinen Schaden“ zu hören war. Insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht zeigt sich das: Investitionen bleiben aus, der Zufluss ausländischen Kapitals tendiert gegen null. Die türkische Lira verlor gegenüber dem Dollar und dem Euro im Mittel 36 Prozent an Wert. Das Haushaltsdefizit wuchs um 88,4 Prozent. Die Bankschulden kleiner Gewerbetreibender und die Anzahl der Firmenpleiten stiegen, das Pro-Kopf-Einkommen sank. Für 154.000 Arbeiter wurde das Streikrecht ausgesetzt. Durch den Stillstand der Zahnräder der Wirtschaft fehlt dem Bürger gewissermaßen jedes fünfte Brot auf dem Tisch.
In einem normalen Land wäre unter solchen Umständen die Wiederwahl einer Regierung undenkbar. In der Türkei aber, wo Politik über Identitäten geführt wird, hat Erdogan immer noch Chancen. Er übergießt den Populismus mit einer Soße aus Nationalismus und Islamismus, um seine Wählerschaft zu halten. Allerdings weist keine einzige bisher veröffentlichte Umfrage eine absolute Mehrheit für ihn aus, auch wenn es sicher scheint, dass er in der ersten Runde vorn liegen wird. Sollten sich die oppositionellen Kräfte aber vor der nachfolgenden Stichwahl einigen, wäre sein Abschied aus dem Palast keineswegs unmöglich.
Weit mehr raubt Erdogan derzeit allerdings die Aussicht, die Mehrheit im Parlament zu verlieren, selbst wenn er sich im Präsidentenpalast behaupten kann, den Schlaf. Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Risiko auszuschließen: die Kurden-Partei HDP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern zu lassen. Damit würden die siebzig Sitze, die die HDP in Aussicht hat, automatisch der AKP zufallen.