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Brief aus Istanbul : Kindsein in Erdogan-Land

  • -Aktualisiert am

Ein Frau zeigt ihrem Kind auf den Straßen Istanbuls Mitte Januar 2023 ein Plakat mit dem türkischen Präsidenten. Bild: EPA/Erdem Sahin

Das Erdogan-Regime erträgt es nicht, wenn die Not, die es selbst geschaffen hat, thematisiert wird. Und wenn ein Kind zu offenherzig ist, wird seine Mutter vor die Kamera gezerrt, um zu widerrufen.

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          Wenn Erdogan nicht noch ein neues Kaninchen aus dem Hut zaubert, wählt die Türkei am 14. Mai 2023 ein neues Parlament und den Staatspräsidenten. Diese Wahlen im 100. Jubiläumsjahr der Republikgründung sind die Gelegenheit, Erdogans über 20-jähriger Regierungszeit ein Ende zu setzen. Das Ergebnis wird für das Land ebenso wichtig sein wie für Erdogans weiteres Schicksal. Die Wähler entscheiden, wie die Türkei in ihr zweites Jahrhundert geht. Wird sie mit Erdogan, der das Land in die Autokratie geführt hat, zu einer Diktatur – oder lässt sich das Ruder doch noch herumreißen? Die Antwort der Wählerinnen und Wähler wird nicht bloß Auswirkungen auf die Türkei haben, sie wird in der gesamten zivilisierten Welt zu spüren sein.

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          Heute, weniger als vier Monate vor dem Wahltermin, sieht es für Erdogan nicht gerade rosig aus. Keine Umfrage deutet auf einen Sieg hin. Er hat dafür gesorgt, dass seine Konkurrenten hinter Gitter kamen oder mit Politikverbot belegt wurden, dass gegen die Kurdenpartei HDP ein Verbotsverfahren eingeleitet, das Wahlgesetz zu seinen Gunsten geändert und unter dem Vorwand des Kampfes gegen Desinformation ein Zensurgesetz für die Presse aufgelegt wurde. In letzter Zeit lässt er Geld ohne Gegenwert drucken, um Wähler mit Bestechung zu ködern. Doch keine dieser Maßnahmen brachte Erdogan so viel Unterstützung ein wie eine Nachricht aus Schweden. Dass ein rechtsextremer Politiker, warum auch immer, vor der türkischen Botschaft das heilige Buch des Islams verbrannte, war für Erdogan ein Glücksfall. Nun wettert er gegen das Land, das er mit dem NATO-Beitritt erpresst, um seine davongelaufenen konservativen Wähler zurückzuholen.

          Bülent Mumay
          Bülent Mumay : Bild: privat

          Erdogan ist stets auf der Suche nach „äußeren Feinden“ für seinen Wahlkampf. Auch bei der Wirtschaftsflaute, für die er selbst verantwortlich ist, versucht er mit dem Blick aufs Ausland zu argumentieren. Er sagt, der Westen sei gar nicht selbstbestimmt, und behauptet: „Die Menschen dort sind auf der Straße, obdachlos und hungrig. So ist es in Frankreich, in England, in Deutschland ...“ In der Türkei lebt über die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, laut Erdogan aber rede „die Welt über die Krise, wir dagegen über historischen Erfolg“. Er rühmt sich staatlicher Hilfen für das gegen die Armut kämpfende Volk, dem er keinen Wohlstand zu bringen vermochte. Er verkündete, 2022 hätten 2,8 Millionen Haushalte Beihilfen für die Stromkosten erhalten. Damit gestand er zugleich ein, dass zehn Millionen Bürger nicht in der Lage sind, ihre Stromrechnungen zu bezahlen.

          Kaum noch erschwinglich

          Wer sich dem von Erdogan verursachten wirtschaftlichen und sozialen Ruin entziehen will, wählt eine der beiden verbliebenen Alternativen, Antidepressiva oder Ausland. Laut jüngst veröffentlichten Zahlen verbrauchten die 85 Millionen Einwohner unseres Landes innerhalb eines Jahres 60 Millionen Schachteln Antidepressiva. Und den Zahlen der EU zufolge stieg die Anzahl der Asylsuchenden aus der Türkei binnen Jahresfrist um 46,5 Prozent auf 924.000. Deutschland ist dabei Zielland Nummer eins. Auch die Zahl derer, die für eine bessere Zukunft sehr viel weiter fortgehen, steigt. Laut Statistik der Zoll- und Grenzschutzbehörde der USA reisten 2020 zweitausend, 2021 fünftausend und 2022 wahrhaftig 25.000 türkische Staatsbürger über Mexiko illegal in die USA ein. Das sind längst nicht alles abenteuerlustige junge Leute. Unter ihnen befanden sich 253 Kinder, die mit ihren Familien Zuflucht in den USA suchten. Und 23 der illegal in die USA Eingereisten waren sogar unbegleitete Minderjährige.

          Dieses Land ist nicht mehr in der Lage, seine Kinder satt zu bekommen. Seit Erdogan die Regierung übernahm, lautet seine Empfehlung an die Bürger, mindestens drei Kinder zu bekommen. Wer auf ihn gehört hat, rauft sich jetzt die Haare. Und Jungverheiratete denken „mindestens dreimal“ nach, was das Kinderkriegen angeht, weil sie kaum selbst über die Runden kommen. Laut der offiziellen Statistik ist die Geburtenrate auf den tiefsten Punkt der letzten zwanzig Jahre gesunken. Die durchschnittliche Geburtenrate ist auf 1,7 gefallen. Kein Wunder, denn laut offiziellen Zahlen sind 7,3 Millionen der 23 Millionen Kinder in der Türkei von Armut und Mangelernährung betroffen. Die Studie eines Bildungsverbands ergab sogar, dass 44 Prozent der Schulkinder unter Mangelernährung und Armut leiden. Fleisch und Milch wurden aufgrund der Wirtschaftskrise extrem teuer und sind kaum noch erschwinglich.*

          Freispruch für den Todesschützen

          Das Erdogan-Regime erträgt es nicht, wenn die Not, die es selbst geschaffen hat, thematisiert wird. Für einen Politiker der Oppositionsführerin CHP fordert der Staatsanwalt vier Jahre und acht Monate Gefängnis sowie ein Politikverbot, weil er in einem Tweet geschrieben hat: „Hunger=RTE“ (Recep Tayyip Erdogan). Der Vorwurf lautet Beleidigung des Staatspräsidenten. Wegen Präsidentenbeleidigung mussten im vergangenen Jahr nahezu 35.000 Personen vor den Kadi. Im Jahr 2014, als Erdogan in das höchste Staatsamt gewählt wurde, lag diese Zahl bei lediglich 184. Dazu noch eine Zahl: 305 der wegen Beleidigung Erdogans Angeklagten sind minderjährig. Lassen Sie mich dieses Kapitel mit einem „Beleidigungsprozess“ von letzter Woche schließen: Fünf Fans sollen für vier Jahre und acht Monate hinter Gitter, weil sie in Sprechchören bei einem Fußballspiel Erdogan beleidigt hätten.

          Die Justiz, die noch die geringste Kritik als Präsidentenbeleidigung abstraft, erhöht tagtäglich ihren Druck auf die Presse. Der Polizist, der 2017 bei einer Kundgebung in Diyarbakir einen unbewaffneten Demonstranten durch einen Schuss in den Rücken getötet hatte, wurde freigesprochen.

          Wer aber wurde im Zusammenhang mit diesem Mord bestraft? Der Journalist, der den Augenblick des Schusses des Polizisten auf einem Foto festhielt, erhielt anderthalb Jahre Haft.

          Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

          In eigener Sache

          Diesen Brief möchte ich mit einem persönlichen Hinweis schließen, obwohl ich so etwas nicht mag. Mir fallen immer wieder gewisse Kommentare unter meinen auf der Website der FAZ veröffentlichten Kolumnen auf. Zunächst hielt ich es für nicht so wichtig, doch mittlerweile sehe ich, dass es dort nachgerade systematisch heißt: „Er schreibt die Briefe nicht aus Istanbul. Er schickt sie über einen Briefkasten in Berlin.“ Deshalb sehe ich mich hier zu einer Anmerkung gezwungen. Wer so denkt, sei versichert, dass ich aus Istanbul schreibe. Wenn Sie mir nicht glauben, erkundigen Sie sich doch auf der Polizeiwache Karaköy in Istanbul, dort muss ich nahezu jeden Monat nach schriftlicher Vorladung zur Aussage hin.

          Bülent Mumay

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