Brief aus Istanbul : Putschparanoia
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Um den Besuch des chinesischen Außenministers bei Präsident Erdogan nicht durch Proteste zu stören, wurde ein Oppositionspolitiker per Corona-App zum Infizierten erklärt und unter Hausarrest gestellt. Bild: EPA
Während ein Sachbearbeiter der AKP in seinem SUV natürlich nur mit Puderzucker hantiert, lebt die Hälfte des Landes vom Mindestlohn, und mahnende Admiräle werden verhaftet: Die Türkei im falschen Film.
Beim Regierungsantritt geht es Parteien in der Türkei nicht allein darum, das Land zu regieren oder den allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft zu erhöhen. Politik ist in diesem Land die Kunst, speziell die Wähler, die einen an die Macht gebracht haben, an den Segnungen dieser Macht teilhaben zu lassen und sie gewissermaßen zu bestechen, damit sie einen beim nächsten Mal wiederwählen. Das geschieht anhand verschiedener Methoden: arbeitslosen Parteianhängern Jobs im öffentlichen Dienst verschaffen, die ärmsten Parteigänger mit Sozialhilfe versorgen, Unternehmern zur Finanzierung von Parteiaktivitäten staatliche Ausschreibungen zuschanzen et cetera. Da es riskant sein könnte, als Journalist, der Ihnen diese Briefe aus Istanbul sendet, darauf einzugehen, wie die Regierenden sich selbst und ihr nahes Umfeld reich machen, überlasse ich diesen Aspekt der Sache Ihrer Phantasie.
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In den neunzehn Jahren ihrer Regierung hat die AKP, die 2002 mit dem Versprechen, die Einkommensungleichheit abzuschaffen, in die Wahlen ging, die Kluft zwischen den Einkommen in der Türkei um ein Vielfaches weiter vertieft. Mittlerweile gehört die Türkei neben Mexiko und Chile zu den drei Ländern innerhalb der OECD, in denen die Schere der Einkommensverteilung am weitesten auseinanderklafft. Auf der einen Seite machte die AKP einige wenige zu Milliardären, fünfzig Prozent der Gesellschaft aber verdammte sie dazu, mit dem Mindestlohn von rund 250 Euro über die Runden zu kommen. Damit diese Situation in den unteren Schichten keine Unzufriedenheit auslöst und zur Abwanderung von Wählern führt, unterstützt sie beinahe 35 Prozent der Bürger mit sozialen Hilfen. Mit einer Art „Kette der Glückseligkeit“ sorgt die Regierung dafür, dass vom Wähler am unteren Rand bis hin zum Gipfel sämtliche Parteimitglieder von der von ihr geschaffenen Rendite profitieren. Selbstverständlich richtet sich der Anteil an diesem Segen je nach Stellung innerhalb der Kette.
Kürzlich deckten zwei Videos in den sozialen Medien die „Omertà“ in Bezug auf diese Kette der Glückseligkeit der AKP auf. Aufnahmen von zwei Personen in unteren Parteirängen enttäuschten selbst frenetischste Erdogan-Bewunderer. Das erste Video zeigt den in der AKP-Parteizentrale in Ankara beschäftigten 28 Jahre alten Sachbearbeiter Kürsat Ayvatoglu beim Koksen in einem luxuriösen SUV. Ginge es lediglich um den Drogenkonsum, könnte man die Sache als Widerspruch im Privatleben eines jungen Beschäftigten einer konservativen Partei betrachten und ad acta legen. Doch nachdem das Video viral gegangen war, kamen Einzelheiten über das Luxusleben Ayvatoglus ans Licht, die für Fragezeichen bei gewöhnlichen AKP-Wählern sorgten. Wie kann ein junger Mann, der nicht viel mehr als den Mindestlohn verdient, drei, vier Luxusautos fahren? Fotos, wie er in teuren Anzügen auf Partys mit Revuegirls anstößt, schockierten die frommen AKP-Wähler.