Brief aus Istanbul : Nimm ein Glas auf dein Wohl, und gib dem Staat zwei aus
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Wer auf Krebsrisiken hinweist, kommt hinter Gitter: Dem türkischen Staat ist nur an braven Konsumenten gelegen. Deshalb steigen manche Preise auch rasant.
Die wichtigste Bruchstelle beim Übergang des türkischen Regierungssystems von einer Demokratie hin zur Autokratie waren die Gezi-Proteste 2013. Begonnen als Protest von Umweltschützern gegen Erdogans Vorhaben, auf einer der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls eine osmanische Kaserne errichten zu lassen, wurden sie, mit allem aufgestauten Ärger, zum Aufstand. Die Reaktion aber, die die gebildeten, weltoffenen, modernen jungen Leute auf ihren Aufschrei „Wir sind hier“ erhielten, war eine geharnischte osmanische Ohrfeige. Statt die Ohren für den Protest zu öffnen, der Verachtete und Diskriminierte einte, und ihre Forderungen anzuhören, setzten die Regierenden auf dem Taksim-Platz unverhältnismäßige Polizeigewalt ein.
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Wir verloren nicht allein zwölf junge Männer, die Gaspatronen und Gummigeschossen zum Opfer fielen. Beseitigt wurden auch das Ideal des Zusammenlebens und die letzten Krumen Demokratie. Vor allem aber erlebten viele, die sich als politische Teilhaber verstanden hatten, eine herbe emotionale Enttäuschung. Den Bruch erfuhr nicht allein die junge „Generation Gezi“. Auch in der Wissenschaft, der Industrie, dem Kommunikationssektor und den Medien tätige Personen in Angestelltenpositionen begannen, ihr Glück außerhalb der Türkei zu suchen. Stipendium, Praktikum, Job, welche Möglichkeit sich auch bot, einer nach dem anderen wanderte ab.
Nach Gezi wurde das Klima rauher und ließ die Emigrationswelle weiter anschwellen. Unter dem Vorwand, den Putsch zu bekämpfen, strebte die Regierung mit einem großen Kehraus danach, unterschiedliche Stimmen zum Schweigen zu bringen, um ihre Macht zu verabsolutieren, und wir dörrten tagtäglich weiter aus. Mittlerweile leben in europäischen Hauptstädten beinahe so viele Akademiker aus der Türkei wie in Istanbul. Im Exil gibt es genug Journalisten aus der Türkei, um gleich mehrere Mediengruppen zu gründen. Auch Fachkräfte, die von strategischer Bedeutung für das Land sind, sehen ihre Zukunft im Ausland. Allein im vergangenen Jahr gingen einhundert mit brisanten Aufgaben in Verteidigung und Technologie betraute Ingenieure in die Niederlande.
Nicht nur gut Ausgebildete gehen. Mit der Abschaffung des Primats des Rechts nehmen auch Wohlhabende diesen Weg, um ihr Vermögen in sichere Häfen zu schaffen. Der neuen Studie „Global Wealth Migration Review“ der Afrasia-Bank zufolge transferierten in den vergangenen zwei Jahren zwölftausend Dollarmillionäre ihr Kapital aus der Türkei ins Ausland. Eine Aussage in der Studie, die die Türkei auf Platz 7 der Länder mit Reichtumsmigration verortet, gibt besonders zu denken: „Ein Blick auf große Zusammenbrüche in der Geschichte zeigt, dass vor dem Kollaps wohlhabende Menschen das Land verließen.“
Erdogan schlägt Türken in die Flucht
Was hier geschieht, ist eine Art Völkerwanderung. Während Erdogan die Kosten für den türkischen Pass senkt, um arabisches Kapital anzulocken, geben wohlhabende Türken Millionen von Euro aus, um Staatsbürger eines EU-Landes zu werden. Erst vergangene Woche erfuhren wir, dass 250 Personen aus der Türkei, darunter Superreiche, sich im EU-Mitglied Malta einbürgern ließen. Zusammen mit Arbeitskräften und Kapital wandern auch etablierte Industrie- und Handelsunternehmen ab. Aufgrund der Wirtschaftskrise ist eine nicht unerhebliche Anzahl von Unternehmen dabei, ihre Anlagen in der Türkei zu schließen und die Produktion ins Ausland zu verlagern. Statt mit Filialen in der Türkei Verluste zu machen, eröffnen sie lieber neue in Europa.
Eine jüngst veröffentlichte Umfrage bei Geschäftsführern der 142 größten türkischen Unternehmen deutet darauf hin, dass auch das neue Jahr keine rosigen Aussichten bietet. Danach geht die Anzahl jener, die noch Investitionen in der Türkei planen, gegen null. Aufgrund der Turbulenzen in der türkischen Wirtschaft haben 77 Prozent der Firmen vor, auf ausländischen Märkten zu expandieren, nur 1,7 Prozent in der Türkei. Die Kommentare in der regierungsnahen Presse zur Abwanderung von in Jahrzehnten aufgebauten menschlichen und finanziellen Ressourcen bringen den Grund für die Emigration auf den Punkt: Die Emigranten werden als Verräter oder Terroristen bezeichnet. Beim Auswandern erfahren sie also erneut eben jene Diskriminierung, die sie zum Gehen veranlasst hat.