Brief aus Istanbul : Im Reich des Sultans
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Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine am Tag der Vereidigung des Präsidenten für seine zweite Amtszeit Bild: AFP
Der Ausnahmezustand ist zu Ende. Doch damit ändert sich in Erdogans „neuer Türkei“ nichts. Nun entscheidet der Präsident persönlich über jeden, der eine öffentliche Stelle haben will.
Nach dem Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 war in der Türkei der Ausnahmezustand verhängt worden. Erdogan konnte die Putschisten, die in der Nacht damals einen bewaffneten Anschlag auf die Demokratie verübten, stoppen. In der Folge setzte er dann allerdings selbst die Demokratie aus. Der Ausnahmezustand wurde verhängt, um die Umstürzler zu bekämpfen. Erdogan aber nutzte die Notstandsgesetzgebung, um mehr als 50.000 Menschen, darunter Journalisten, Wissenschaftler und Beamte, hinter Gitter zu bringen. Rund 130.000 Angestellte wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
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Unter den Betroffenen befanden sich zweifelsohne auch Gefolgsleute seines einstigen Partners Fethullah Gülen, die am Coup beteiligt waren. Allerdings stellte sich bald heraus, dass der Ausnahmezustand nicht in erster Linie darauf abzielte, die Putschisten vor Gericht zu stellen. Vielmehr diente er Erdogan, die Opposition unter Druck zu setzen und eine ganze Reihe Personen aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, die nichts mit dem Putsch zu tun hatten. Die unmittelbare Putschgefahr war rasch gebannt, die zugehörigen Prozesse starteten bald, dennoch reagierte Erdogan mit der bekannten Anschuldigung, wenn er gefragt wurde, warum er nicht endlich den Ausnahmezustand aufhebe: „Sie leisten dem Terror Vorschub.“
Dabei war längst klar, dass er den Ausnahmezustand ein ums andere Mal verlängerte, um seine Macht zu zementieren und der erste Präsident mit Sultansvollmachten zu werden. So führte er das Land 2017 in die Abstimmung über den Wechsel zum Präsidialsystem alla turca und entschied sie knapp für sich. Da Abgeordnete und Parteivorsitzende der Opposition inhaftiert wurden, war kein anderes Ergebnis zu erwarten. Auf dieselbe Weise gewann er auch die Wahlen vor gut zwei Wochen. Der Ausnahmezustand hatte seinen Zweck erfüllt. Als er jetzt am 9. Juli nach zwei Jahren aufgehoben wurde, war das, welch ein Zufall, derselbe Tag, an dem Erdogan den Amtseid ablegte und damit offiziell zum Alleinherrscher wurde.
Mit der Abschaffung des Ausnahmezustands sind wir natürlich nicht in der Demokratie gelandet. Vielmehr wurde die Ausnahme zum Normalzustand, da die Gesetze um Rechte und Freiheiten beschneidende undemokratische Maßnahmen ergänzt wurden. Entscheidender noch ist, dass sämtliche Einrichtungen des Landes praktisch Erdogan unterstellt wurden. Das betrifft nicht nur Justiz, Verwaltung oder den Geheimdienst. Der Präsident wird auch entscheiden, ob Reis gesät wird und welche Studenten ins Ausland geschickt werden. Selbst in Katasterangelegenheiten hat er persönlich das Sagen.
Selbstverständlich wird Erdogan auch eigenhändig sämtliche staatlichen Stellen besetzen. Kürzlich ließ der Präsidentenpalast verlautbaren, jeder, der im öffentlichen Dienst tätig werden will, solle sich mit seinem Lebenslauf direkt in der Personalabteilung des Präsidialamts bewerben. Staatspräsident Erdogan werde genehme Bewerber auswählen und da einsetzen, wo er es für richtig hält. Wenige Tage nach der Bekanntmachung wurden mit dem letzten Dekret des Ausnahmezustands weitere 18000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Vermutlich um für die von Präsidentenhand ausgesuchten Neuen Platz zu schaffen. Zehntausende fanden in der Nacht, als das Dekret erwartet wurde, keinen Schlaf vor lauter Sorge, ob auch sie zu den Entlassenen gehörten. Aller Augen richteten sich auf das Amtsblatt. In der Nacht kletterte die Anzahl der Besucher auf der Website auf beinahe 70000, woraufhin sie zusammenbrach.