Brexit und Verfassung : Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode
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Das kündigte sich auch an, als der Erzbrexiter Gove seinen Freund Johnson verriet und dessen Vater Shakespeares Julius Caesar mit dem Ausruf zitierte: „Et tu, Michael!“ Die Verantwortungslosigkeit trat erstmals in der neueren englischen Geschichte an die Stelle der Ehre. Die einzelnen Brexiter entpuppten sich als Verräter und der Brexit als nichts anderes denn ein im Namen des Staates begangener Verrat.
Vor Beginn der Kampagne, am 2. Februar, hatte Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats, in einem Brief an die Ratsmitglieder scherzend Hamlet variiert: „To be or not to be together“, das sei die Frage. Man entschied sich für das Nichts. Wie aber kam es, dass die vermeintliche Verteidigung der Verfassung zum selbstzerstörerischen Verrat ausarten konnte?
Das Trauma des Bürgerkriegs
Seit dem Bürgerkrieg teilt sich die englische Gesellschaft in „Cavaliers“ (Royalisten) und „Roundheads“ (Republikaner). Politik und Kultur, Kunst und Sport, Geschmack und Kleidung – kurz, jeder Aspekt des Lebens auf der Insel weist diese Polarität auf. Ein Premier wie David Lloyd George war eindeutig ein „Roundhead“, Winston Churchill dagegen ein „Cavalier“; ein Romancier wie Evelyn Waugh ist ebenfalls ein typischer „Cavalier“, George Orwell dagegen eindeutig ein „Roundhead“. Im Kampf um Europa wurde diese Spannung ganz besonders virulent, da im Großen und Ganzen die „Roundheads“ für Europa stimmten, die „Cavaliers“ dagegen für den Brexit. Diese Unterschiede sind für die britische Gesellschaft weitaus kennzeichnender als der Marxsche Begriff des Klassenkampfs. So rüttelte die Brexit-Debatte an politischen Strukturen, die seit der Glorreichen Revolution von 1688 festgefügt waren, als man sich für die Souveränität des Parlaments entschied.
Die „Cavaliers“ bestehen auf einer althergebrachten, natürlichen, organischen Verfassung, während die „Roundheads“ am liebsten eine schriftliche Ordnung hätten, wie sie sich seit der Französischen Revolution in aller Welt eingebürgert hat. Das ließ die notwendige Vermittlung der britischen Verfassungsgrundlagen mit dem Lissabon-Vertrag schwierig, ja gar unmöglich erscheinen. Dabei übersahen die Brexiter aber, wie sehr Britannien in jeder Hinsicht – politisch, rechtlich, militärisch, wirtschaftlich, finanziell, kulturell – mit Europa verwachsen ist, so dass eine Trennung die ganze Existenz des Königreichs gefährdet. Nicht umsonst spricht man ironisch von „Little England“. 1688 war die britische Souveränität ein ernster Begriff; inzwischen hat er sich zur bloßen Wahnidee umgeformt, zu einer Wunschvorstellung, die sich in der global vernetzten Welt längst nicht mehr realisieren lässt.
So vermag sich England immer noch nicht vom Trauma des Bürgerkriegs zu befreien, um die Kluft zwischen Parlament und Krone zu überwinden und dadurch eine friedliche Beziehung zur Außenwelt zu entwickeln. Daher die andauernden Kriege, ob im Suezkanalgebiet, um die Falklands, in Afghanistan oder im Irak. Auch die Beziehung zu Europa ist prinzipiell agonistisch. Um vor sich selbst zu bestehen, muss dieses winzige Land permanent auf Kriegsfuß stehen. Dazu gehört schließlich das Charakterbild des Abenteurers, angefangen von Francis Drake bis hin zu David Cameron, dem Premier, der aus politischen Erwägungen das Königreich aufs Spiel setzte.