Brexit und Verfassung : Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode
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Die zerstörerische Seite des fetten Kobolds
Für die Briten stellen Shakespeares Dramen das Modell einer gerechten Regierung dar. Der Kampf zwischen Chaos und einer weisen Führung erscheint hier in einem klaren Licht. Keine andere Nationalliteratur seit den alten Griechen bietet einen solchen Kanon von politischen Möglichkeiten. König Lears Zersplitterung seines Reiches begleitete die englische Geschichte als Menetekel. Im Bürgerkrieg, während der Französischen Revolution oder zur Zeit der Chartisten, der Frühform der Arbeiterbewegung, die von 1838 an für demokratische Reformen auf die Straße ging, bestand immer die Gefahr einer apokalyptischen Wende.
Selbst die Persönlichkeiten im Brexit-Streit wirken wie Gestalten aus Shakespeare: Lady Macbeth (Gisela Stuart), Jago (Michael Gove), Richard III. (Nigel Farage) und Falstaff (Boris Johnson). Auch die überraschende Wende nach dem Ende der Kampagne, da alle wie in Shakespeares „Titus Andronicus“ auf der Bühne wie tot umfielen, erinnert an das Elisabethanische Drama.
Allen voran lebt Falstaff in Boris Johnson wieder auf als Narr, als Prasser, als Lügenbold, als Aufwiegler. Sigmund Freud sah in Falstaff nur die Witzfigur. Er erkannte nicht die böse, zerstörerische Seite des fetten Kobolds. Johnsons Hohn auf jegliches Recht spiegelt Falstaffs Spott auf „Altvater Wahnsinn das Gesetz“, seine endlosen Lügen erinnern an Falstaffs Kette von Unwahrheiten. Johnsons Populismus findet sich in Falstaffs Erkenntnis wieder: „Es ist beständig der Tick unsrer englischen Nation gewesen, wenn sie was Gutes haben, es zu gemein zu machen.“ Sein demagogischer Witz in der Wendung: „Ein guter Kopf weiß alles zu benutzen.“ Schließlich Johnsons grenzenloser Egoismus in Falstaffs Rede: „Ich habe eine ganze Schule von Zungen in diesem meinem Bauch, und keine einzige von allen spricht ein anderes Wort als meinen Namen.“
Es siegten die Staatszerstörer
Die beiden Stücke über die Regierungszeit Heinrichs IV. zeigen die soziale Notwendigkeit, Falstaff und seine Spießgesellen im Zaum zu halten. Am Ende des zweiten Teils spricht Heinrich V., der neue König, seine Überzeugung aus:„Ich kenn’ dich, Alter, nicht; an dein Gebet! / Wie schlecht steht einem Schalksnarrn weißes Haar! / Ich träumte lang von einem solchen Mann, / So aufgeschwellt vom Schlemmen, alt und ruchlos: / Doch, nun erwacht, veracht’ ich meinen Traum.“ Seit jeher begreift die englische Staatskunst die Regierung als Bezähmung des Chaos, des Wahnsinns und der Narrheit. Der weise Herrscher vermag wie Prinz Hal das Volk zu begreifen, weiß aber zugleich, als König Heinrich, inwiefern der Staat die Kräfte der Anarchie unterdrücken muss, um eine gerechte Gesellschaft zu errichten. Die Brexit-Kräfte hingegen haben die Anarchie beschworen. Als man nach der Abstimmung den Ukip-Chef Nigel Farage in einem Interview beschuldigte, das Chaos herbeigeführt zu haben, lachte er laut auf und behauptete, es könne „gar nicht genug Chaos“ in Großbritannien geben. Es siegten also die Staatszerstörer, denn mit Brexit zerbrach der heilige Vertrag zwischen Herrscher und Volk.