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Jürgen Kaube (kau)

Sozialkreditsystem : Tugendpunkte in Bologna

  • -Aktualisiert am

Wenn der Müll anständig getrennt wird, haben auch die Wildschweine (wie hier in Rom) keine Chance mehr. Bild: dpa

Unter dem Namen „Smart Citizen Wallet“ sollen Italiener für Wohlverhalten wie Mülltrennung und Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Punkte sammeln können. Die Belohnung steht noch nicht fest, die sozialen Folgen sind dagegen absehbar.

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          In der Liste der Nationalstereotype sind unter „Italien“ Einträge zu Mülltrennung, Befolgen der Verkehrsregeln und Anbetung des Intakten nicht gerade prominent. Aber das kann noch werden. Ausgerechnet in Bologna wird gerade das erste europäische Sozialkreditsystem entwickelt. Unter dem Namen „Smart Citizen Wallet“ soll es vom Herbst an mittels einer App auf dem Mobiltelefon Bürgern das Sammeln von Tugendpunkten erlauben. Wer nachweislich den Müll getrennt oder öffentliche Verkehrsmittel benutzt hat und nie im Parkverbot stand, erhält Gutschriften. In was sie umgetauscht werden können, steht noch dahin.

          China arbeitet seit 2014 in Testregionen mit einem solchen System an der Verhaltenssteuerung der Bevölkerung. Wer sich wohl verhält, erlangt dort leichteren Zugang zu Krediten und Visa, wer negativ auffällt, muss mit Reisebeschränkungen und Steuererhöhungen rechnen. Dabei werden Technologien optischer Überwachung ebenso eingesetzt wie die Auswertung der Datenmengen, die das Smartphone liefert, wenn mit ihm gebucht und bezahlt wird.

          Die digitalen Personalakten wachsen

          Hält man sich an die europäische Variante, die bei Freiwilligkeit der Teilnahme einstweilen nur positive Sanktionen vorsieht, so verwandelt sie das öffentliche Leben und seine Probleme in ein Spiel. Die italienische Autorengruppe „Ippolita“ hat das in ihrem Buch über „Elektrische Seelen“ („Anime elettriche“, 2016) analysiert. Es werden danach moralische Rabattmarken verteilt, die den Zugang zu Gütern und Konsumlevels eröffnen, je nachdem, wie viele Punkte gesammelt wurden. Die Gesellschaft verwandelt sich dort, wo die Tugendabrechnung etabliert wird, in eine Organisation.

          Im idealen Fall werden überall Messstationen eingerichtet, die den Gehorsam ermitteln, und die digitalen Personalakten wachsen. Es muss festgelegt werden, was erwünscht ist und wie viel dafür zurückgezahlt werden kann, dass das Erwünschte geschieht. Die Abweichung davon, Ungehorsam, Indifferenz und Eigensinn gelten als unsozial. Was getan wird, wird aufgrund einer erwartbaren Auszahlung getan. Zugleich ist aus China der Begriff der „unsichtbaren roten Linie“ bekannt, der die Ungewissheit darüber bezeichnet, was denn genau sozial erwünscht ist und ob verlangtes Verhalten nicht stets auch Schattenseiten hat.

          Das gilt nicht zuletzt für den Konformismus selbst, pflegt die Gesellschaft doch seit jeher ganz unterschiedliche Normen, deren jeweilige Befolgung nur zufällig zueinander passt. Wenn die Leute nachts an unbefahrenen Straßen rote Fußgängerampeln beachten, können sie sowohl ein Lob des regelgerechten Handelns erwarten wie die Beschreibung, kadavergehorsam und also willenlos zu sein. Deviant sind die Verbrecher wie die Rebellen, die Erfinder wie die Melancholiker. Aus dieser Vielfalt der Abweichungen von den Pfaden der Tugend lebt jedes Gemeinwesen. Wenn uns also jemand fragte, wohin Europa geht, würden wir abermals nur sehr ungern sagen: „Nach Bologna.“

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

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