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Biografie : Der Mann, der "Lolita" erfand

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Oft erzählt, oft verfilmt: Die „Lolita”-Geschichte

Oft erzählt, oft verfilmt: Die „Lolita”-Geschichte Bild: ProSieben

Heinz von Lichberg, Adeliger, Geheimdienstmann und Feulletonist, wäre möglicherweise in Vergessenheit geraten, hätte er nicht außer Theaterkritken für den „Völkischen Beobachter“ auch den Vorläufer von Nabokovs „Lolita“ geschrieben.

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          Am 16. März 1951 meldeten die "Lübecker Nachrichten" in einem Nachruf, einem ihrer Mitarbeiter, "einer der bekanntesten Erscheinungen des deutschen Journalismus", sei die Feder endgültig aus der Hand genommen. Heinz von Eschwege-Lichberg hieß der Feuilletonist, und ein halbes Jahrhundert später ist von seiner Bekanntheit nichts übriggeblieben.

          Heinz von Lichberg, 1890 in Marburg geboren, ist heute in keinem Literaturarchiv und in keinem Lexikon vertreten. Die einzige Autorenenzyklopädie, die ihn aufgenommen hat, gibt seine Daten falsch an und raubt ihm zwanzig Jahre seiner Lebenszeit. Was damit zusammenhängen mag, daß selbst der Name der früher bekannten Erscheinung in einem gewissen Zwielicht liegt.

          Als Journalist und Autor nannte er sich Heinz von Lichberg, sein Geburtsname war Heinz von Eschwege. Das Pseudonym hatte seine Berechtigung: Heinz von Eschwege, aus hessischem Uradel stammend, wählte mit Lichberg einen Adelsnamen wohl aus der Zeit um 1100, der auf einen bei Eschwege gelegenen Berg namens Leuchtberg zurückgeht - Leuchtberg, weil er einst, Schauplatz martialischer Schlachten, vor Blut geleuchtet haben soll.

          Ein Mädchen namens Lolita

          Militärisch war auch Lichbergs Familienhintergrund. Sein Vater war Oberstleutnant der Infanterie. Heinz, der einzige Sohn, wurde ein Pferdenarr und diente im Ersten Weltkrieg als Kavallerist oder "Reiteroffizier", wie die Lübecker im Nachruf meldeten. Ebenso groß wie das Faible fürs Militärische war auch Lichbergs Liebe zur Literatur. Schon in jungen Jahren brachte er Gedichte in den Zeitschriften "Jugend" und "Simplicissimus" unter.

          Im Jahr 1916 veröffentlichte er im Darmstädter Falken-Verlag eine Sammlung von fünfzehn Erzählungen unter dem Titel "Die verfluchte Gioconda". Eine dieser Erzählungen handelte von einem Intellektuellen mittleren Alters, der sich bei einer Auslandsreise in die Tochter seines Pensionärs, ein blutjunges Mädchen, verliebt, das am Ende stirbt - ein Mädchen namens Lolita, das der Geschichte auch den Titel gab (F.A.Z. vom 19. März). Es dauerte mehr als vierzig Jahre, bis ihr Name und ihre Geschichte die Weltöffentlichkeit erschüttern sollten. Fünfzehn dieser vierzig Jahre verbrachte Heinz von Lichberg in Berlin, wo auch Vladimir Nabokov lebte, der mit dem Roman "Lolita" seinen Weltruhm begründete.

          Als Journalist in Berlin...

          Lichberg hatte sich in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg als Journalist einen Namen gemacht. Er schrieb Reportagen und Feuilletons für den Scherl-Verlag und den "Berliner Lokal-Anzeiger". Auch kleinere Bücher erschienen zwischendurch - ein Gedichtband "Vom Narrenspiegel der Seele" schon 1917, drei Jahre darauf "Die große Frau - Kleinigkeiten aus dem Leben einiger Menschen". Populär wurde Lichberg aber als Zeitungsplauderer und Reisekorrespondent. Für den Scherl-Verlag berichtete er 1929 über den Transatlantikflug mit dem Zeppelin. Das Dokument dieser Reise, die Sammlung "Zeppelin fährt um die Welt", ist noch heute im Antiquariatshandel erhältlich, mit Fotos des leicht melancholischen Beaus, dem ein Zeitgenosse später elegantes Auftreten bescheinigen wird.

          ...den Fackelmarsch der SA kommentiert

          Anfang der dreißiger Jahre finden wir Lichberg politisiert. Auch wenn man ihn heute nicht mehr kennt - seine Stimme kann man noch im Ohr haben. Es war Heinz von Lichberg, der am 30.Januar 1933 Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und den Fackelmarsch der SA zum Reichstag in einer landesweit ausgestrahlten Radiosendung kommentierte. Zusammen mit dem SA-Sturmführer Wulf Bley blickt er auf die "ungeheuren Menschenmassen", die dem Führer zujubelten. In der Reichskanzlei steht Adolf Hitler "mit todernstem Gesicht am Fenster, er ist eben aus seiner Arbeit herausgerissen, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung oder dergleichen, eine ernste Arbeitsstimmung, die auf seinem Gesicht liegt. Er ist eben unterbrochen worden. Und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über diese Massen von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbeimarschieren, Arbeiter der Stirn und der Faust; alle Klassenunterschiede sind verwischt."

          Die Verwischung der Klassenunterschiede könnte darauf hindeuten, daß Lichberg, der wie viele Adlige im Ersten Weltkrieg ein Gefühl der schichtenübergreifenden Verbrüderung kennengelernt haben mag, bei der NSDAP noch Hoffnungen auf die zweite Letter setzt. Im Mai 1933 wird Lichberg Parteimitglied. Bald darauf gehört er der Schriftleitung des "Völkischen Beobachters" an.

          "Mausi und die Nußkremfüllung"

          Schon im nächsten Jahr freilich zeigt sich, daß er politisch doch nicht ganz zuverlässig ist. Im Februar 1934 trifft bei der Schriftleitung ein scharfes Protestschreiben ein, das Lichbergs "sonderbare ,kulturpolitische' Tätigkeit" attackiert. Lichberg hatte als Theaterkritiker ein Nazi-Stück ausgerechnet im offiziellen Parteiorgan verrissen. Nun habe man für die Uraufführung eigens Hunderte von Karten innerhalb der Partei vertrieben, und dann stampfe es der "Völkische Beobachter" in den Boden! Überhaupt hätten die Kritiken des Herrn von Lichberg in der letzten Zeit außerordentlich häufig die schärfste Ablehnung der Parteigenossen erfahren.

          Lichberg blieb im "Völkischen Beobachter", schrieb aber weiterhin leichte Feuilletons für den "Berliner Lokal-Anzeiger". Schon die Überschriften zeigen das Genre an: "Kater Julius auf Logierbesuch", "Bißchen Frühling, bißchen Liebe", "Mausi und die Nußkremfüllung". Mausi heißt die Gattin des Erzählers (Lichberg war seit 1921 verheiratet), und der dramatische Knoten des Stücks ist ihr eigenmächtiger Kauf eines Frühjahrshutes. Neue Frühjahrshüte sind auch ein Seitenthema des Artikels "Der Traum vom großen Los", in dem der Ehemann mit seiner diesmal Lily benannten Frau über die Frage streitet, was sie mit einer im Lotto gewonnenen Million anfangen würden - sie will in die Berge, er will in die Norddeutsche Tiefebene ... Dinge dieses Stils. Mit den Jahren wird Lichberg ihrer offenbar leid.

          Sabotage, Provokation, Propaganda

          Schon 1933 klagt er bei Hans Grimm, den er im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte, daß er ein Zeitungssklave beim Scherl-Verlag sei, mit dem er sich nun schon seit Jahren herumärgern müsse. 1935 versucht er noch einmal, sich als Autor zu etablieren. Er veröffentlicht den heiteren, zum Teil in New York spielenden Roman "Nantucket-Feuerschiff". Außer einer Festschrift zwei Jahre später wird jedoch kein Buch mehr von ihm zum Druck befördert. Ende 1937, im selben Jahr, in dem Nabokov Deutschland verläßt, verabschiedet sich Lichberg von seinem Publikum.

          Das Militärische gewinnt wieder die Oberhand. Lichberg macht Karriere in der Wehrmacht, genauer: im Geheimdienst. 1943 ist er im Oberkommando der Wehrmacht, Abwehrabteilung II. Vieles deutet darauf hin, daß der versierte und weitgereiste Journalist vom Kreis um Canaris rekrutiert wurde. Ein Indiz dafür ist, daß Lichbergs Mitgliedschaft in der NSDAP ab dem 23. Juni 1938 ruhte. Nur drei Wochen zuvor hatte Canaris die neue Abteilung II der Abwehr gegründet, zuständig für Sabotage, Provokation, Verbindung mit den Volksdeutschen und Propaganda, zunächst unter der Leitung Helmuth Groscurths.

          "Propaganda gegen Nordafrikaner"

          In Groscurths Diensttagebuch findet sich Ende 1939 die Bemerkung, er habe mit Hauptmann von Eschwege über "Propaganda gegen Nordafrikaner" gesprochen. 1941 ist Lichberg im Oberkommando der Heeresgruppe C (Nord), ein Jahr später im Abwehrkommando 204. Inzwischen ist er zum Oberstleutnant aufgestiegen. Später wird er im Ersatzbataillon 600 nach Leszno (Lissa/Wartheland) versetzt. Was er in der Ersatztruppe der Geheimen Feldpolizei in Polen tat oder zu sehen bekam, bleibt der Spekulation überlassen. Die Aktenlage ist dünn.

          Im Februar 1944 wird Lichberg mit unbekanntem Auftrag nach Paris verschickt - in die Stadt also, aus der vier Jahre zuvor Vladimir Nabokov vor den anrückenden deutschen Truppen mit einem der letzten Passagierschiffe nach Amerika geflohen war, wo jene "Lolita" entstand, ohne die wir heute nicht an Lichberg erinnert würden.

          Adelsast derer von Eschwege endet mit dem Verfasser der ersten "Lolita"

          Lichberg gerät in britische Kriegsgefangenschaft, aus der er, recht früh für einen Mann seines Ranges, im April 1946 entlassen wird. Offenbar konnte man ihm nichts Belastendes nachweisen. Er läßt sich in Lübeck nieder, wohin es ihn schon immer gezogen hat, wenn man den Ehestreit über die Lottomillion autobiographisch lesen darf. Lichberg arbeitet für die Lokalpresse und stirbt nach kurzer Krankheit am 14. März 1951.

          Seine Ehe blieb kinderlos; ein Adelsast derer von Eschwege endet mit dem Verfasser der ersten "Lolita". Seine Todesanzeige trägt nur zwei Namen: neben der Witwe Martha geb. Küster unterzeichnet Lita von Vitzthum geb. Stobwasser. Frau von Eschwege-Lichberg lebte noch 1960 in Neuwied am Rhein, dann verliert sich auch ihre Spur. Wenn es einen Nachlaß gibt, so hat er sich bislang gut getarnt.

          Nicht, daß sich jemand auch nur nach ihm umgesehen hätte, wäre nicht 1955 ein gewisses Buch erschienen. Es hat schon seinen Grund, daß Heinz von Lichberg in Vergessenheit geraten ist. Nicht unbegabt, wenn auch schreiend unreif hantiert er in seiner "Lolita" mit Leim, Holz, Papier und Schnur. Vladimir Nabokov benutzt ähnliche Materialien. Aber nur bei ihm wird daraus ein Drachen, der in zuvor unerreichte Höhen der Literatur aufsteigt.

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