Zum 100. Geburtstag von Claude Simon : In der Gegenwart des Schreibens
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Claude Simon an seinem Schreibtisch. Bild: Roland Allard/Éd. Minuit
Als Zeitgenossen von Faulkner, Joyce und Proust hat ihn Jean Améry einmal bezeichnet. Nichts ist daran zu revidieren: Zum hundertsten Geburtstag von Claude Simon.
„Nach und nach änderte er sich. Er fing wieder an, die Zeitung zu lesen, achtete auf die Landkarten, die sie veröffentlichten, die Namen der Städte, Küsten oder Wüsten, wo weiterhin Schlachten geschlagen wurden. Eines Abend setzte er sich an seinen Tisch vor ein weißes Blatt Papier. Es war jetzt Frühling. Das Fenster war in der lauen Nacht geöffnet. Einer der Zweige der großen Akazie, die im Garten wuchs, berührte fast die Mauer, und er konnte die von der Lampe beleuchteten Zweige mit ihren federartigen Blättern sehen, die vor dem Hintergrund der Finsternis leise bebten, die ovalen, vom elektrischen Licht grell grün gefärbten Foliolen, die hin und wieder schwankten wie Federbüschel, plötzlich wie von einer eigenständigen Bewegung durchzuckt, als ob der ganze Baum erwachte, schnaubte, sich schüttelte, und dann besänftigte sich alles, und sie sanken zurück in ihre Reglosigkeit.“
So endet eines der späten Bücher von Claude Simon, die Ende der achtziger Jahre, bereits nach der Verleihung des Nobelpreises veröffentlichte „Akazie“. Selbst wenn man dieses „Ich“ nicht einfach mit dem Autor gleichsetzen kann, der einmal darauf hinwies, dass er nie im strikten Sinn autobiographische Bücher schreibe, „lieber: auf der Basis von Erlebtem“, kann man diese Passage als Beschreibung der >Einsetzung< eines Autors lesen: Im Elternhaus im südfranzösischen Perpignan, gerade zurückgekehrt aus deutscher Kriegsgefangenschaft, in die er 1940 als einer der wenigen Überlebenden einer Kavallerieschwadron geriet, begann Claude Simon ernsthaft zu schreiben.
Wiedergewinnung der Welt
Die Vernichtung einer Reitereinheit, das erschöpfte Umherirren zwischen Toten, Pferdekadavern und tödlichem Feuer in einer unwirklich erscheinenden Sommerlandschaft: Auf diese Szenen stößt man bei Simon später immer wieder, oft gegengeschnitten mit Szenen anderer Kriege und Schlachten, von den pharsalischen Feldern über die napoleonischen Feldzüge, an denen ein Vorfahr als General teilnahm, bis zum spanischen Bürgerkrieg. Simon scheint in ihnen einen Nullpunkt des Schreibens gegenwärtig zu halten: Im Zustand völliger Erschöpfung, bedroht vom sinnlosen Tod unter Maschinengewehrfeuer, hält der Blick des Gehetzten und zuletzt auf allen Vieren Kriechenden nur noch Steine und Gräser fest.
An diesem Nullpunkt setzte die genaue Beschreibung ein, eine Wiedergewinnung der Welt, zuerst noch mit dem Zeichenstift, wie es für ihn nahelag, denn in den dreißiger Jahren hatte er sich in Paris in der Malerei versucht. „Ich zeichnete Blätter ab, ein Grasbüschel, einen Stein, so genau wie möglich. Ein wenig im Geist Dürers, den ich erst später entdeckte.“ Aber die Versuche mit der Malerei, über die er sich später nur mehr als Jugendverirrung lustig machte, werden beendet. Es lief auf das Blatt Papier auf dem Schreibtisch hinaus, an den sich am Schluss der „Akazie“ ein zukünftiger Autor setzt.
Auf der „Basis des Erlebten“
Die ersten Bücher, die dann entstanden, im Jahrzehnt bis 1954 immerhin vier Romane, ließ Simon später nicht mehr gelten. In die mittlerweile vorliegende Ausgabe seiner Werke in der Bibliothèque de la Pléaide, deren zweiter Band in diesem Frühjahr erschien, wurden sie denn auf seinen Wunsch auch nicht aufgenommen. Freilich entdeckt man in ihnen schon Elemente und Konstellationen der folgenden Bücher. Aber zu seiner unverkennbaren Stimme, fand Simon erst in den folgenden Büchern, in „Der Wind“(1957), „Das Gras“(1958) und „Die Straße in Flandern“ (1960). Es sind die Bücher, in denen er sich vom prägenden Eindruck Faulkners und dessen Verfahren der Perspektivenwechsel ablöst, um eigene Verfahren der Komposition zu entwickeln.